Russlands neue Ausgestoßene
Transgender drohen Russlands neue Parias zu werden. Gesellschaftlich geächtet droht ihnen ein neues Gesetz jetzt auch ihre Bürgerrechte zu nehmen.
Ehe und Adoption sollen ihr verboten werden
Irma war sechs Jahre alt, galt noch als Bub, als sie auf der Straße ein kleines Mädchen mit einem schönen Kleid sah. „Ich wollte dieses Kleid anziehen, bot ihr an, sie dürfe dafür mit meinem Fahrrad fahren.“Eine Nachbarin sah, wie das Mädchen ihr Kleid auszog und schlug Alarm. Am Ende wurde Irma von ihrem Vater, einem Luftwaffenoffizier, verprügelt. Er glaubte, der Sohn wollte Sex mit dem Mädchen.
Das war unerhört, ein Transgender aber war für die Menschen in der späten Sowjetunion der 1980erJahre so unvorstellbar wie ein Marsmensch.
Irma Weller, inzwischen 44, ist heute eine kräftige Person mit graublauen Augen, tiefer Stimme, ungeschminkt. Aber auf gepflegten Fingernägeln leuchtet silberner Lack. Irma ist Transfrau. Sie sagt, sie leide unter ihrem wenig femininen Aussehen. Sie sei es gewohnt zu leiden, zu kämpfen. Aber jetzt wolle sie nur noch weg, weit weg. Sie hat bereits ein Flugticket nach Mexiko-Stadt.
Die Zahl der Transgender in Russland ist eine Dunkelziffer. Irma Letter, Koordinatorin einer Initiativgruppe gegen die Verletzung der Transgenderrechte, glaubt, etwa ein Prozent der Bevölkerung, also 1,4 Millionen Russen, besäßen entsprechende Veranlagungen. Die Selbsthilfegruppe T-Action zählt jährlich 1200 Transleute, die online oder persönlich Rat suchen. Aber ihnen allen droht der Exodus, wegen eines geplanten Gesetzes, das Transgender-Ehen unterbinden und dafür auch alle Geschlechtsumwandlungen für juristisch nichtig erklären will.
Irma wurde als Teenager mehrfach von der Schule nach Hause geschickt, weil sie, die damals noch als Bub galt, sich geschminkt hatte. Sie begriff immer deutlicher, dass etwas nicht stimmte, dass in ihrem männlichen Körper eine Seele wohnte, die Frau sein wollte. Ein einsamer Kampf begann, ohne Internet, ohne psychologische Beratungsstellen. Und ein Kampf gegen sich selbst. „Ich merkte, dass ich Mädchen liebte, wie konnte ich da selbst eins sein, ich hatte Angst, ich sei schizophren.“
Irmas Jugend war verzweifelt, mehrfach stieg sie mit einer Flasche Wodka in die Badewanne, säbelte mit einem Messer an ihren Genitalien herum. Als sie sich schließlich als Frau outete, brachen ihre Eltern jeden Kontakt ab. Irma begann Hormone zu schlucken, ohne genau zu wissen welche, veränderte sich, bekam Brüste, aber ihr Pass blieb männlich. Sie verlor den Job und konnte keinen neuen finden, ernährte sich aus Mülltonnen, ging auf den Strich.
Damals bedurfte es einer Diagnose durch ein Ärztekonzil, um als Transgender anerkannt zu werden. Der erste Facharzt, an den sich Irma wandte, schickte sie weg, sie müsse zuerst ihre Depressionen überwinden. Zwei Monate lag sie in einer psychiatrischen Klinik. Der dort zuständige Dentist lehnte es ab, „so eine Schwuchtel“zu behandeln, ein vereiterter Zahn entzündete beide Kiefer, Irma verlor alle Zähne und trägt heute ein Gebiss.
Die postsowjetische Schwulenfeindlichkeit geriet unter Putin zum Mainstream, 2013 verbot die Staatsduma „Propaganda nicht traditioneller sexueller Beziehungen bei Minderjährigen“.
Irma kämpfte weiter, 2009 wurde sie ärztlich als Transgender anerkannt. Aber das Standesamt verlangte ein Attest, dass sie sich ihren Penis habe wegoperieren lassen, um ihre Geburtsurkunde auf weiblich umzuschreiben. „Ich wollte die Operation damals nicht, habe sechs Jahre gegen das Standesamt prozessiert, vergeblich.“2015 war Irma der endlosen Gerichtsverhandlungen müde, lieh sich das Geld und ließ den Eingriff machen. Danach endlich schrieb man ihr die Geburtsurkunde und alle übrigen Dokumente um. „Das Leben wurde leichter. Zumindest konnte ich allen, die wissen wollten, was ich in der Hose habe, mit einem staatlichen Dokument antworten.“
Aber im Juni 2020 ließ Wladimir Putin eine Verfassungsreform verabschieden, in der sehr traditionelle Banalitäten stehen: „Die Ehe ist ein Bund von Mann und Frau.“Die Staatsduma berät darauf basierend einen Gesetzesentwurf, der Homosexuellen und Transgendern Ehen wie Adoptionen ausdrücklich verbietet. Und nebenher verlangt, bis Anfang 2022 in ihre Geburtsurkunden wieder ihr altes Geschlecht einzutragen.
„Sie verbieten niemandem Hormontherapien, um sein Geschlecht zu wechseln“, sagt TransgenderAktivistin Letter. „Aber sie verweigern den Transgendern juristisch die Anerkennung ihres Geschlechts. Sie verweigern ihnen ihre Bürgerrechte“. Verheirateten Transgendern drohen Zwangsscheidungen, Kindern, die sie adoptiert haben, das Waisenhaus.
Irmas Freundin hat drei Kinder, Irma fürchtet sich, sie aus dem Kindergarten abzuholen, fürchtet, die Erzieherinnen könnten sie anzeigen. „Ich habe Angst, sie nehmen meiner Freundin die Kinder ab.“
Von 20 Transgendern aus ihrem Freundeskreis sind mittlerweile 18 ausgereist. Außer ihr ist nur eine Frau geblieben, die ihre alte Mutter nicht allein lassen will. Irma wartet auf ihren Flug nach Mexiko und hofft, dass ihre Lebensgefährtin mit den Kindern nachkommen kann. „Inzwischen habe ich Angst, den letzten Flug aus diesem Land zu verpassen.“