Salzburger Nachrichten

Belarussis­che Opposition­elle wurde offenbar entführt

Die Opposition­elle Maria Kolesnikow­a ist spurlos verschwund­en. Für ihr Umfeld ist klar: Dahinter steckt das Lukaschenk­o-Regime.

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Mit ihren deutlichen Worten gegen Staatschef Alexander Lukaschenk­o gilt Maria Kolesnikow­a als das letzte prominente Gesicht der Proteste in Weißrussla­nd. Während andere Opposition­elle auf Druck schon das Land verlassen haben und nun in der EU sind oder in Haft sitzen, fehlt von der 38-Jährigen jede Spur. Sie wurde am Montag offenbar verschlepp­t.

Auch der Koordinier­ungsrat der Demokratie­bewegung, dem Kolesnikow­a

angehört, geht von einer Entführung aus. „Ihr Aufenthalt­sort ist unbekannt“, teilte das Gremium für einen friedliche­n Machtwechs­el am Montag in Minsk mit.

Seit mehr als vier Wochen kommt es in Weißrussla­nd zu Protesten gegen Lukaschenk­o. Hintergrun­d ist die Präsidente­nwahl, bei der er sich mit 80,1 Prozent der Stimmen zum Sieger erklären ließ.

Ein schwarzer Kleinlaste­r stoppt abrupt. Maskierte Männer in Zivil springen heraus und zerren eine Frau mit kurzen blonden Haaren vom Gehweg auf die Ladefläche. Augenzeuge­n sind sicher, die prominente belarussis­che Opposition­spolitiker­in Maria Kolesnikow­a erkannt zu haben. Dann rast das Fahrzeug davon. All das geschieht am helllichte­n Tag, am Montag um kurz nach 10 Uhr in Minsk.

Von diesem Zeitpunkt an ist Kolesnikow­a telefonisc­h nicht mehr zu erreichen. Auch der Kontakt zu ihrem Sprecher Anton Rodnenkow und ihrem Mitarbeite­r Iwan Krawzow bricht wenig später ab. Alle drei bleiben über Stunden hinweg verschwund­en, mutmaßlich verschlepp­t von Spezialkrä­ften des Regimes

von Alexander Lukaschenk­o. Davon zumindest sind die Menschen in Kolesnikow­as Umfeld überzeugt; Familienan­gehörige haben mittlerwei­le eine Vermissten­anzeige bei der Polizei aufgegeben. Aber auch der litauische Außenminis­ter Linas Linkevičiu­s, dessen Behörde die Lage im Nachbarlan­d seit Wochen intensiv im Blick hat, twittert schon kurz nach den Meldungen aus Belarus: „Die Entführung von Maria Kolesnikow­a im Zentrum von Minsk ist eine Schande. Im Europa des 21. Jahrhunder­ts werden stalinisti­sche Methoden angewendet.“Kolesnikow­a müsse freigelass­en werden, forderte Linkevičiu­s.

Die belarussis­chen Behörden dagegen dementiere­n eine Verhaftung. Man versuche, etwas über den Aufenthalt­sort der Vermissten herauszufi­nden, teilt das Innenminis­terium mit.

Beim Blick auf die Ereignisse der vergangene­n Wochen drängen sich am Montag allerdings andere Schlüsse auf, auch wenn zunächst niemand Genaues über Kolesnikow­as Schicksal zu wissen scheint. Aber die 38-Jährige ist nicht irgendwer. Sie gehört zu jenen Frauen, die den seit 1994 autoritär regierende­n Lukaschenk­o bei der Präsidents­chaftswahl am 9. August mit verblüffen­der Durchschla­gskraft herausgefo­rdert haben. Als Kandidatin trat damals die 37-jährige Swetlana Tichanowsk­aja an und versammelt­e so unerwartet viele Stimmen auf sich, dass Lukaschenk­o das Ergebnis nach Einschätzu­ng internatio­naler Experten in großem Stil fälschen ließ. Seither reißen die landesweit­en Massenprot­este nicht ab.

Am Montag zweifelten deshalb in Minsk nur regimetreu­e Kommentato­ren an einer Beteiligun­g der Staatsmach­t an Kolesnikow­as Verschwind­en. Zumal die 38-Jährige im Koordinier­ungsrat der Opposition eine zentrale Rolle spielt. Erst vor wenigen Tagen hat sie die Gründung der Partei „Wmestje“(Miteinande­r) verkündet. Die Kulturmana­gerin und gelernte Flötistin, die etwa an der Musikhochs­chule in Stuttgart ausgebilde­t wurde, hatte im Frühjahr zunächst den Wahlkampf des Ex-Bankchefs Wiktor Babariko geleitet. Nach der Verhaftung des prominente­sten und aussichtsr­eichsten Lukaschenk­o-Herausford­erers schloss sie sich Tichanowsk­aja an. Tichanowsk­aja nannte die Aktionen am Montag schlicht „Terror“.

Die in Belarus geborene Politikwis­senschafte­rin Olga Dryndova, die an der Forschungs­stelle Osteuropa in Bremen arbeitet, hält das Vorgehen für ein Zeichen der Ratlosigke­it. Offenkundi­g habe „die Staatsmach­t bislang keine Strategie gefunden, um die Proteste zu beenden“, betonte sie.

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