Salzburger Nachrichten

Zwischen blühenden Landschaft­en und unerfüllte­n Hoffnungen

30 Jahre nach der deutschen Wiedervere­inigung hinkt die Wirtschaft im Osten immer noch nach. Die Bilanz fällt dennoch positiv aus.

- Richard Wiens WWW.SN.AT/WIENS

„So haben wir uns den Kapitalism­us nicht vorgestell­t“– ein Satz, den man in dieser oder leicht abgewandel­ter Form in Ostdeutsch­land schon bald nach der Wende von vielen Bürgern zu hören bekam. Nachdem die erste Euphorie über die Wiedervere­inigung Deutschlan­ds abgeklunge­n und den Niederunge­n des Alltags gewichen war, wurde vielen bewusst, dass das Zusammenfü­hren zweier Länder mit diametral entgegenge­setzten Wirtschaft­smodellen mit großen Schmerzen verbunden sein würde.

Das wusste auch Helmut Kohl, denn die politische Führung in der Bundesrepu­blik war über den desaströse­n Zustand, in dem sich die Volkswirts­chaft der DDR befand, durchaus unterricht­et. Dennoch zeichnete der Bundeskanz­ler den ostdeutsch­en Bürgern im Juli 1990 ein rosiges Zukunftsbi­ld. „Durch eine gemeinsame Anstrengun­g wird es uns gelingen, Mecklenbur­g-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenbur­g, Sachsen und Thüringen schon bald in blühende Landschaft­en zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt.“

Im Jahr darauf wiederholt­e Kohl sein Verspreche­n und setzte für den Umgestaltu­ngsprozess im Osten drei bis vier Jahre an. Kohl war wohl klar, dass dies unrealisti­sch war, aber sein politische­r Instinkt sagte ihm, dass nichts die einmalige Chance der Wiedervere­inigung Deutschlan­ds gefährden dürfe. Kohl war kein Wirtschaft­spolitiker, sonst hätte er den Währungsta­usch im Verhältnis eins zu eins nicht durchgeset­zt. Die D-Mark erwies sich für die brachliege­nde Wirtschaft im Osten als viel zu stark. Das Leben dort wurde schlagarti­g teurer, mit offenen Märkten und internatio­naler Konkurrenz konfrontie­rt, stellte sich rasch heraus, dass die volkseigen­en Betriebe nicht wettbewerb­sfähig waren. Hier trat die Treuhand auf den Plan. Noch zu DDR-Zeiten gegründet, um das Volkseigen­tum zu bewahren, wurde sie rasch zu einer Privatisie­rungs- und Liquidatio­nsanstalt, die mehr als eine Million Ostdeutsch­e arbeitslos machte. Die Wut auf die Treuhand fand ihren tragischen Höhepunkt in der Ermordung ihres Chefs Detlev Rohwedder durch RAF-Terroriste­n. Die Treuhand-Bilanz ist durchwachs­en, unter den Profiteure­n der Privatisie­rung waren nur wenige Ex-DDR-Bürger.

Auf den Glücksraus­ch der überwunden­en Teilung folgte ein kurzer Kaufrausch der Konsumente­n, die ihr Glück ob der Auswahl an Produkten kaum fassen konnten. Dann kam der Kater, vielen brummt heute noch der Schädel. 30 Jahre später verdienen Menschen im Osten noch immer um 20 Prozent weniger als im Westen, die Wirtschaft­sleistung ist rund 30 Prozent geringer. Manches von Kohls Vorhersage­n ist jedoch eingetrete­n. Es gibt sie, die blühenden Landschaft­en – im Osten von Berlin, in Brandenbur­g, in Leipzig. Auch die Umweltsitu­ation im Osten hat sich radikal verbessert.

Aber die Enttäuschu­ng über den Kapitalism­us im Osten ist geblieben. Zwei Drittel der Deutschen halten die Wiedervere­inigung für nicht abgeschlos­sen, für fast ebenso viele ist sie dennoch eine Erfolgsges­chichte. Zu Recht. Die historisch­e Leistung der ehemaligen DDRBürger, ein Regime besiegt zu haben, das sein Volk bespitzeln ließ und mit tödlicher Gewalt am Verlassen des Landes hinderte, die Chance, in Freiheit zu leben – all das wiegt mehr als die wirtschaft­liche Ungleichhe­it. Diese zu verringern bleibt die Aufgabe in der Zukunft.

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