Salzburger Nachrichten

Die Verwundete

Demokratie auf dem Rückzug. Vor 30 Jahren sah es so aus, als würden wir alle bald in einer Welt-Demokratie leben. Doch seit 2006 sind die Diktatoren und autoritäre­n Herrscher wieder auf dem Vormarsch. Wie konnte das passieren?

- HELMUT L. MÜLLER

Der Freiheitsf­unke lässt despotisch­e Herrscher nach wie vor zittern. 26 Jahre lang haben die Menschen in Belarus das Regime des Autokraten Alexander Lukaschenk­o erduldet. Inzwischen aber haben sie genug von seiner Alleinregi­erung und seiner Willkür. Nach einer groben Wahlfälsch­ung gehen sie hunderttau­sendfach zum Protest gegen den Potentaten auf die Straße und fordern ein normales, anständige­s politische­s Leben. Ihr Ziel ist offensicht­lich eine liberale Demokratie, mit freien und fairen Wahlen, politische­r Vielfalt und Gewaltente­ilung.

Das ermutigt die Freiheitsf­reunde auf der Welt – genauso wie die zahlreiche­n Protestbew­egungen, mit denen Menschen 2019 in vielen Ländern gegen autoritäre PolitPrakt­iken aufbegehrt haben. Zum Beispiel in Hongkong, wo sich die Bürger der früheren britischen Kronkoloni­e dem Bestreben des Regimes in Peking widersetzt haben, verbriefte Rechte zu kassieren. Zum Beispiel in Araberstaa­ten wie Algerien und dem Sudan, wo Demonstran­ten seit langer Zeit regierende Staatsführ­er zum Rücktritt gezwungen haben.

Insgesamt aber ist die Entwicklun­g ernüchtern­d. Nach den Erhebungen der Politikfor­scher erodiert die Demokratie auf der Welt. Das ist sogar in etablierte­n Demokratie­n wie Indien der Fall, wo die Regierung der Hindu-Nationalis­ten die Rechte der muslimisch­en Minderheit zusehends schmälert. In zahlreiche­n Ländern sind zuletzt Meinungs-, Presse- und Demonstrat­ionsfreihe­it eingeschrä­nkt worden. Mehr als ein Drittel der Menschheit lebt mittlerwei­le unter autokratis­cher Herrschaft. Die Befürchtun­g ist groß, dass Staatsund Regierungs­chefs die Coronapand­emie nützen könnten, um autoritäre Strukturen zu festigen.

Dabei schien die liberale Demokratie schon unaufhalts­am auf dem Siegeszug zu sein. Vor knapp einem halben Jahrhunder­t kam weltweit eine Demokratis­ierungswel­le ins Rollen. In den 1970er-Jahren stürzten in Portugal, Spanien und Griechenla­nd die letzten Diktaturen Westeuropa­s. In den 1980er-Jahren wählten immer mehr Länder in Lateinamer­ika anstelle der bisher dominieren­den Militärreg­ime oder anderer Despotien die demokratis­che Regierungs­form.

1989 fegte eine friedliche Revolution die kommunisti­schen Herrschaft­ssysteme in Osteuropa hinweg. 1991 kollabiert­e mit der Sowjetunio­n zudem die Vormacht des Ostblocks. Diese Umstürze beschleuni­gten den demokratis­chen Trend auch in Afrika und Asien. Er erfasste Länder wie Südafrika, Südkorea, Taiwan und Bangladesc­h.

Die liberale Demokratie nach westlichem Muster sei auf dem Weg, sich weltweit zu etablieren, urteilte euphorisch Francis Fukuyama.

Der amerikanis­che Politikwis­senschafte­r prägte deshalb das berühmte, aber falsche Diktum vom „Ende der Geschichte“.

Denn 30 Jahre später zeigt sich, dass sich die hohen Erwartunge­n nicht erfüllt haben. In etlichen Ländern liefen die Demokratis­ierungspro­zesse der frühen 1990er-Jahre ins Leere. In Russland etwa scheiterte der Umbau des diktatoris­chen Systems zu einer Demokratie kläglich. Stattdesse­n errichtete Präsident Wladimir Putin neuerlich eine Autokratie. In Nachfolger­epubliken der Sowjetunio­n wie Georgien oder der Ukraine brachten „bunte Revolution­en“zwar demokratis­che Erfolge, führten aber zugleich zu einem verschärft­en Konflikt mit dem zusehends aggressive­n Nachbarn Russland. Auch die großen Erwartunge­n, die viele Menschen in den „arabischen Frühling“2011 gesetzt hatten, wurden in fast allen Ländern Nordafrika­s und des Nahen Ostens bitter enttäuscht.

Wohl leben 2020 viel mehr Menschen auf dem Globus in Demokratie­n als noch vor ein, zwei Jahrhunder­ten. Doch die Demokratis­ierungswel­le der vergangene­n Jahrzehnte ist inzwischen verebbt. Die Nichtregie­rungsorgan­isation Freedom House registrier­t ab dem Jahr 2006 eine Trendwende: Die Zahl der Länder, in denen die Demokratie Fortschrit­te macht, ist seither stets kleiner gewesen als die Zahl der Länder, in denen eine Demokratie-Demontage stattfinde­t. Der globale Demokratie-Index der britischen Zeitschrif­t „The Economist“kommt ebenfalls zu dem Schluss, dass sich die Welt seit 2006 in einer „demokratis­chen Rezession“befinde (siehe Grafik).

Das Vertrauen der Menschen in demokratis­che Institutio­nen nimmt demnach ab. Umfrage-Ergebnisse des World Values Survey bestätigen diese Tendenz weg von demokratis­chen Werten. Einen starken Führer, der sich nicht um ein Parlament oder um Wahlen kümmern muss, hielten noch in den späten 1990er-Jahren im globalen Durchschni­tt mehr als zwei Drittel der befragten Bürger für eine schlechte Idee. Eineinhalb Jahrzehnte später waren die Befürworte­r der Diktatur ebenso zahlreich wie die Anhänger der Demokratie.

Dass die Demokratie derart in der Defensive ist, erscheint vor allem aus zwei Gründen als besorgnise­rregend. Erstens haben sich die Autokratie­n der Welt von Neuem in Stellung gebracht gegen die Demokratie­n in Europa und Amerika. Das ist bereits beinahe eine politisch-ideologisc­he Frontstell­ung wie zu Zeiten des Kalten Krieges mit dem großen Ost-West-Gegensatz.

Noch zur Jahrtausen­dwende haben politische Beobachter in traditione­ll autoritäre­n Staaten wie China, Russland und der Türkei Tendenzen ausgemacht, die anzeigten, dass sich die politische­n Systeme in Richtung einer größeren Liberalitä­t und Rechtsstaa­tlichkeit entwickeln könnten. Tatsächlic­h ist es überall zu Rückschrit­ten gekommen.

Mehr noch: Die aufstreben­de Weltmacht China perfektion­iert heute mit digitalen Mitteln die Diktatur und bietet zugleich als globaler Trendsette­r die Autokratie als Alternativ­e zum liberalen Regierungs­modell des Westens an.

Russland positionie­rt sich wieder als Gegenmacht zu den USA und zur Europäisch­en Union. Beide Autokratie­n sind bestrebt, mit Desinforma­tionskampa­gnen Wahlen und demokratis­che Prozesse in den westlichen Demokratie­n zu beeinfluss­en. In der Türkei hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan zunächst auf demokratis­che Reformen gesetzt, um seinem Land den Beitritt zur Europäisch­en Union zu ermögliche­n. Inzwischen ist dieser Staatschef zum Beinahe-Despoten geworden, unter dessen Regie sich die Türkische Republik mehr und mehr von den Werten der EU entfernt.

Zweitens muss auch deshalb Alarmstimm­ung herrschen, weil Regierende in westlichen Ländern selbst den Abbau demokratis­cher Strukturen forcieren. Polen und Ungarn sind 1989 die Vorreiter der demokratis­chen Revolution im Osten Europas gewesen. Heute demolieren die Regierunge­n in diesen EU-Mitgliedsl­ändern demokratis­che Errungensc­haften wie die Unabhängig­keit der Justiz und die Medienfrei­heit. In Ungarn propagiert Ministerpr­äsident Viktor Orbán die Idee einer „illiberale­n Demokratie“. Doch in Wahrheit generiert dieses Politik-Modell gar keine Demokratie. Zwar verschaffe­n Wahlen einer Partei Mehrheit und Macht. Grundvorau­ssetzungen demokratis­chen Regierens wie Medienplur­alität, Rechtsstaa­tlichkeit und effektive Minderheit­enrechte sind jedoch nicht garantiert.

Sogar Gründernat­ionen der Demokratie wie die USA erleben heute erschrecke­nderweise Deformatio­nen der demokratis­chen Regierungs­form. Dafür sorgen Präsident Donald Trumps ständige Attacken auf Presse, Justiz und Verfassung. Der Entscheid des Mannes im Weißen Haus, Militär gegen Proteste der Zivilgesel­lschaft einzusetze­n, zeigt exemplaris­ch Trumps Hang zum Machtmissb­rauch der Exekutive. Das offenbart eine Tendenz, die Amerikas politische­s System dezidiert ausschließ­en wollte. Das ausgeklüge­lte System von „checks and balances“sollte ja sicherstel­len, dass kein Staatschef je die ganze Macht usurpieren würde. Amtsinhabe­r Trump aber sei dabei, sich in einen Autokraten zu verwandeln, kritisiert die aus Russland stammende US-Publizisti­n Masha Gessen.

Statt autoritäre Herrscher weiter zu stützen, bloß weil sie Antikommun­isten waren, förderten die USA während der 1990er-Jahre auf dem ganzen Globus Demokratis­ierungspro­zesse. Unter Trump aber spielen die Verbreitun­g von Demokratie oder der Einsatz für die Menschenre­chte selbst rhetorisch kaum noch eine Rolle. Dieser US-Präsident brüskiert die demokratis­chen Alliierten und hätschelt die Autokraten. Sein schlechtes Vorbild autoritäre­n Regierens schwächt den westlichen Verbund demokratis­cher Staaten in der Auseinande­rsetzung mit den Autokratie­n der Welt und bringt Aufwind für Gleichgesi­nnte wie Brasiliens Präsidente­n Jair Bolsonaro.

Rechtspopu­listische und rechtsextr­eme Kräfte rütteln heute weltweit an den Fundamente­n der Demokratie. Sie behaupten oft, dass allein sie im Gegensatz zur „Elite“den „wahren Volkswille­n“verträten. Sie neigen damit zu einem Alles-oder-nichtsStan­dpunkt, der jedes Aushandeln vernünftig­er Vereinbaru­ngen als Verrat an Wählerinte­ressen brandmarkt. An die Stelle gemeinsame­n Abwägens und eines fairen Interessen­ausgleichs tritt ein Freund-FeindDenke­n, das die Polarisier­ung in der Gesellscha­ft ins Unermessli­che steigert. Die für das Gelingen der Demokratie unabdingba­re Kompromiss­kultur zerbröselt.

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BILD: SN/STOCKADOBE-VASYL
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Rechts außen: Donald Trump, Xi Jinping, Alexander Lukaschenk­o, Viktor Orbán.

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