Es war ein spirituelles Großexperiment
Die Coronakrise hat die Menschen unerwartet und massiv auf die Endlichkeit des Lebens hingestoßen. Was die allgegenwärtigen Ängste mit den Schrecken der Pestzeit zu tun haben und was Zuversicht gibt.
Johannes Huber, Mediziner und Theologe, rät im SN-Gespräch zu mehr Gelassenheit, aber auch zur frühzeitigen Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit.
SN: Wir sind durch eine Zeit der Angst und der Ohnmacht gegangen. Und noch immer ist die Unsicherheit groß.
Johannes Huber: Das erste halbe Jahr Corona war ein spirituelles Großexperiment, weil die Endlichkeit des Daseins dem Menschen offenbar schon aus seinem Gedächtnis entschwunden war. Jetzt wurde sie ihm mit voller Härte vor Augen geführt. Das sind die Menschen nicht gewohnt. Deshalb reagieren sie derart allergisch, dass man selbst in der freien Natur jemandem mit Maske begegnen kann, der auch noch einen großen Bogen macht, um nicht angesteckt zu werden.
Das ist im Grunde völlig irreal und irrational. Aber diese Ängste sitzen tief drinnen. Das wäre für die Kirchen und für andere Gemeinschaften, die Sinnstiftung zu vermitteln versuchen, eine Möglichkeit gewesen zu sagen, dass unser Leben endlich ist, dass Corona ein Zeichen dafür ist und dass wir damit fertigwerden müssen.
SN: Das hat sich nicht nur die Kirche nicht zu sagen getraut, sondern auch die Medizin redet nicht gern von der Endlichkeit des Lebens.
Völlig richtig. Es gibt einen Katalog der Todesursachen. Wenn jemand stirbt, muss er medizinisch einen dieser Gründe erfüllen, z. B. Herzstillstand oder Schlaganfall oder was immer. Aber eine Ursache steht nicht in diesem Katalog: das altersbedingte Schwachwerden und Hinüberschlafen. Allein daran sieht man, dass selbst die Medizin den normalen Tod nicht kennt. Es muss immer eine definierte Krankheit, einen Unfall oder ein Virus als Ursache geben.
SN: Der Arzt kann nicht einfach in den Totenschein schreiben „friedlich entschlafen“.
Aber das gibt es sehr häufig! Wie oft sagt man von einem Menschen, er sei friedlich entschlafen. Dieses normale Sterben haben wir eliminiert, und damit auch die Physiologie und die Normalität des Todes. Wir reden heute vom Menschen so, wie die Griechen von ihren Göttern geredet haben: Das sind die Unsterblichen.
Der neuzeitliche Mensch möchte werden wie die Götter der alten Griechen – unsterblich.
SN: Wenn Krankheit und Tod so eng zusammen gedacht werden, steigt dann zwangsläufig die Angst vor der Krankheit?
Grundsätzlich ja, aber gerade diese Frage stellt sich bei Covid-19 nicht. Dieses Virus ist nicht so eng mit dem Tod verbunden, wie es in der Öffentlichkeit den Eindruck hat. Im Laufe einer Woche sterben derzeit in Österreich etwa 1300 Menschen – davon höchstens einige wenige an Covid-19 oder mit Covid-19.
Meine Hypothese ist, dass hier die Micro-RNA aus der Pestzeit durchschlägt, mit all den elementaren Reaktionen von damals. Anders scheint mir die massive Angst wegen des Coronavirus nicht verständlich. Es ist falsch, einfach zu sagen, die Menschen reagierten hysterisch. Da muss ein biochemisches Substrat dahinter sein, eine Prägung, die von den tatsächlichen Schrecken der Pest herrührt: Pest ist gleich Seuche ist gleich Tod.
SN: Die verbreitete Angst rührt auch daher, dass die Medizin – noch – sehr ohnmächtig gegen das Virus erscheint.
Aber diese Situation haben wir bei jedem unheilbaren Karzinom. Die Ohnmacht der Medizin ist nicht neu, die erleben wir Mediziner tagtäglich. Wir müssen auch in der Medizin die Endlichkeit des Daseins akzeptieren. Die menschliche Zelle und der Körper sind – noch – keine Rechenaufgabe. SN: Was gibt Zuversicht?
Ich denke, es kommt darauf an, dass der Mensch mit sich selbst im Reinen ist und mit der Natur, die ihn umgibt. Es kommt darauf an zu beachten, dass der Körper das Gefäß des Geistes ist. Darüber hinaus
denke ist als Christ, dass ich Teil einer ganz großen Ordnung bin. Und in dieser großen Ordnung akzeptiere ich mein Schicksal.
Gleichmütig werden gegenüber dem Tod ist eine Lebensaufgabe. Ich kann als Mensch nie früh genug damit anfangen, mir immer wieder bewusst zu machen, was in meinem Leben schicksalhaft gut gelaufen ist und wofür ich dankbar sein kann.
SN: Wo hat die Zuversicht des Arztes noch Platz, wenn es keine Heilung mehr gibt?
Die Zuversicht bleibt darin, dass man die verbleibende Lebenszeit so schmerzfrei wie möglich gestaltet. Aufgabe des Patienten wäre es, zur Kenntnis zu nehmen, dass man eingewoben ist in ein großes Ganzes. Jetzt muss man sich entweder zurückziehen oder man geht in ein Archiv, irgendwo im Universum.
Aber das kann nur weltanschaulich interpretiert werden. Der eine Mensch wird sagen, ich habe das Meine an meine Kinder weitergegeben, dort lebt es, oder ich habe das Meine an soziale Initiativen gegeben, da lebt es weiter. Und dann gibt es Menschen, die sagen, ich wechsle nur das Kleid und das Zimmer. Ich gehe in ein anderes Zimmer, wo eine andere Denkweise vorherrscht, die wir uns noch nicht vorstellen können.
Die einzige Antwort, die der Mensch gern hören möchte – du wirst ewig leben –, gibt es nicht.
SN: Was können wir demnach spirituell aus Corona lernen?
Wir können lernen, mit unserer Endlichkeit weltanschaulich ins Reine zu kommen. Das sollte sich jeder Mensch ins Buch schreiben, egal welcher Religion er angehört oder ob er weltanschauliche Fragen innerweltlich für sich beantwortet.
SN: Junge Menschen haben erstmals eine Krise erlebt.
Was bleibt prägend für sie?
Es gibt die Gefahr, dass junge Leute sich sagen, uns trifft es nicht, es trifft ohnehin die Alten. Die zweite Gefahr ist, dass diejenigen, die diese Krise in einem prägenden Alter erlebt haben und zum ersten Mal in ihrem Leben massiv aus der Bahn geworfen wurden, weniger gelassen ins Leben gehen werden.
Ich habe unlängst mit einem bekannten Rabbiner gesprochen. Der hat mit Recht gesagt, schauen Sie, bei uns ist die Familie ein Mal in der Woche, am Sabbat, beisammen. Da wird nichts anderes getan, als dass wir miteinander reden. Kinder brauchen diese Zeit, diese Prägemomente, in denen ihnen ein tragfähiges Weltbild vermittelt wird.
Darauf müssen wir uns wieder besinnen: welches weltanschauliche oder religiöse Rüstzeug wir den Kindern mitgeben.