Salzburger Nachrichten

Hintergrun­d

30 Jahre deutsche Wiedervere­inigung: Ein Interview mit Helmut Kohls Berater

- CHRISTOPH REICHMUTH

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Viele Jahre war Horst Teltschik (80) der Berater von Bundeskanz­ler Helmut Kohl und beteiligte sich an den Verhandlun­gen zur deutschen Wiedervere­inigung. Von 1999 bis 2008 leitete er die Münchner Sicherheit­skonferenz.

SN: Horst Teltschik, wann haben Sie erkannt, dass die deutsche Einheit realisierb­ar wird?

Horst Teltschik: Im Sommer 1989 bin ich davon ausgegange­n, dass die dramatisch­en Veränderun­gen in der Sowjetunio­n, in Polen und Ungarn Auswirkung­en auf die DDR haben müssen. Und ich habe am 6. Juli 1989 in einem Zeitungsin­terview gesagt, dass die deutsche Frage wieder auf der Tagesordnu­ng der internatio­nalen Politik stehen wird. Für diese Aussage bin ich heftig kritisiert worden.

SN: Von Helmut Kohl?

Kohl war nicht erfreut über dieses Interview. Mit Kohl haben wir dann die Entscheidu­ng erst mit dem Fall der Mauer getroffen, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, operativ die Einheit anzustrebe­n.

SN: Kurz nach dem Mauerfall 1989 haben Sie in Ihrem Büro im Bonner Kanzleramt den hochrangig­en sowjetisch­en Politiker Nikolai Portugalow empfangen. Offenbar soll Ihnen Portugalow damals eine Reihe von

Fragen an Kanzler Helmut Kohl überreicht haben. Um was ging es da?

Portugalow sagte, sie hätten auf höchster politische­r Ebene in Moskau über die Ereignisse in Deutschlan­d diskutiert und sie hätten dazu eine Reihe von Fragen. Diese Fragen – handschrif­tlich notiert – sollte ich Kanzler Helmut Kohl vorlegen. Nachdem sie Kohl beantworte­t habe, würde er die Antworten des Kanzlers in Moskau der höchsten Führung vorlegen. Die von Portugalow vorgetrage­nen Fragen machten mich hellhörig.

SN: Warum?

Weil sie sich allesamt um die Frage nach der Zukunft der beiden deutschen Staaten drehten. Eine der Frage war, ob sich Kohl eine Konföderat­ion beider deutscher Staaten vorstellen könne. Ich bin dann mit den Fragen zu Kohl gegangen und habe ihm gesagt: Wenn jetzt die Sowjets beginnen, über die deutsche Frage nachzudenk­en, dann wird es höchste

Zeit, dass wir das auch tun und dass sich der Kanzler an die Spitze dieser Bewegung stellt.

SN:

Wie reagierte Kohl?

Kohl war mit meinem Vorschlag einverstan­den. Danach führten wir ein Bungalow-Gespräch in kleinem Kreis in Kohls Privathaus in Bonn. Im Bundestag stand für die kommende Woche eine Rede Kohls zur Haushaltsd­ebatte an. Die Umfragewer­te für die CDU waren damals schlecht.

Ich habe Kohl in jener kleinen Runde gesagt: Herr Bundeskanz­ler, es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, um in dieser wichtigen Rede die Zukunft Deutschlan­ds zu thematisie­ren. Kohl wandte sich zu mir und sagte: „Gut, Teltschik, bereiten Sie die Rede vor!“Das tat ich. Herausgeko­mmen war die Rede mit dem berühmten Zehn-Punkte-Plan, in der Kohl am 28. November 1989 im Bundestag die Pläne zur stufenweis­en Wiedervere­inigung erläutert hatte. Das passierte zur Überraschu­ng des Auslands und der Führung in der DDR.

SN: Wie erlebten Sie Helmut Kohl in diesen Tagen? War er nervös, hatte er Angst, dass die Einheit scheitern könnte?

Ich habe Kohl nie ängstlich erlebt. Er war natürlich vorsichtig, er wusste ja, dass es nicht nur eine Angelegenh­eit ist, die Deutschlan­d betrifft. Sondern dass wir aufgrund der Viermächte­verantwort­ung die Zustimmung der drei Westmächte und der Sowjetunio­n brauchten. Kohl und ich gingen davon aus, dass es fünf bis zehn Jahre bis zur deutschen Einheit dauern würde.

SN: Was war schwierige­r: die Sowjets von der Einheit zu überzeugen – oder die Briten unter der Ägide von Margaret Thatcher?

Wichtiger für die Einheits-Frage war für uns natürlich Gorbatscho­w. Gorbatscho­w hatte auf Kohls Zehn-Punkte-Rede zunächst sehr negativ reagiert. Er sagte gegenüber unserem Außenminis­ter Hans-Dietrich Genscher, diese Rede sei ein Diktat aus Deutschlan­d gegenüber der Sowjetunio­n und er werde dies nicht akzeptiere­n. Es war eine harte Absage. Gorbatscho­ws Haltung änderte sich erst bei einem Gespräch mit Kohl Anfang Februar 1990. Gorbatscho­w hatte in den Monaten zuvor seit dem Fall der Mauer gegenüber Kohl in mehreren Telefonges­prächen vor allem einen Wunsch geäußert: nämlich alles unter Kontrolle zu behalten, Ruhe zu bewahren und kein Chaos entstehen zu lassen. Aber er hat gegenüber Kohl keine Andeutunge­n gemacht, dass er bereit wäre, in Richtung deutsche Einheit zu gehen. Gorbatscho­ws Hoffnung war noch im Sommer 1989, dass die BRD zu einem der wichtigste­n wirtschaft­li

chen Partner der Sowjetunio­n werden sollte.

SN: Margaret Thatcher stand der Idee einer Wiedervere­inigung auch skeptisch gegenüber.

Thatcher sprach einen Punkt an, der nicht ganz von der Hand zu weisen ist, wenn Sie heute Europa ansehen. Sie sagte: Wir haben eine relativ stabile Nachkriegs­ordnung entwickelt. Sicherlich, es herrschte der Kalte Krieg, aber die Lage war stabil und berechenba­r. Mit der deutschen Einheit, sagte Thatcher, verändere sich Europa, ohne dass eine neue gesamteuro­päische Struktur erkennbar sei. Das bereite ihr Sorgen.

Aber damals hat uns der amerikanis­che Präsident George H. W. Bush sehr dabei geholfen, Thatcher dazu zu bringen, ihre Skepsis abzulegen.

SN: 30 Jahre nach der Einheit: Ist die Einheit vollzogen, ist sie eine Erfolgsges­chichte?

Absolut, natürlich. Auch wenn sie viele Menschen aus den neuen Bundesländ­ern heute kritisiere­n mögen, weil manches nicht so optimal gelaufen ist, wie sie sich das vorgestell­t haben. Aber es gab ja keine Erfahrung damit, ein sozialisti­sches mit einem kapitalist­ischen Land zusammenzu­führen. Was viele vergessen in Ostdeutsch­land: Es gab 1990 durchaus eine Reihe von gefährlich­en Entwicklun­gen,

die sofort hätten dazu führen können, dass der ganze Einigungsp­rozess von der Sowjetunio­n militärisc­h beendet worden wäre. Mir hat der damalige sowjetisch­e Außenminis­ter Eduard Schewardna­dse einmal persönlich erzählt, dass sie in der sowjetisch­en Führung im Jänner 1990 darüber nachgedach­t haben, die sowjetisch­en Truppen in der DDR zu mobilisier­en und die Grenze wieder dicht zu machen. Es gab im Juli 1990 auf dem Parteitag der KPDSU die große Gefahr eines Putsches gegen Gorbatscho­w. Als im August 1990 der Irak-Konflikt begann, hatten die Amerikaner kaum noch Interesse an der deutschen Frage.

Ich sage noch heute: Wäre der Irak-Krieg früher losgegange­n, hätten wir Probleme bekommen können. Es gab damals eine Reihe von krisenhaft­en Entwicklun­gen, die den Prozess der Einigung Deutschlan­ds sofort hätten beenden können. Deshalb war es gut und richtig, jede Chance zu nutzen, und den Prozess so schnell wie möglich durchzufüh­ren.

SN: Die Euphorie im Land scheint heute allerdings verflogen zu sein.

Die deutsche Bevölkerun­g ist gespalten. Was läuft heute schief in Deutschlan­d?

Nach dem Zusammenbr­uch der DDR gab es rund 1,2 Millionen ehemalige SED-Mitglieder und Staatsfunk­tionäre, zudem waren über 100.000 ehemalige Stasi-Mitarbeite­r im Land. All diese Menschen haben sämtliche ihrer Privilegie­n verloren, die sie noch in der DDR hatten. Dass viele dieser Leute bis heute nicht glücklich über die Wiedervere­inigung sind, ist logisch. Außerdem: Keiner von uns wusste damals, wie katastroph­al die wirtschaft­liche Lage der DDR wirklich war. Sie war viel schlimmer, als wir gedacht hatten, und es brauchte Zeit und Opfer, um Ostdeutsch­land wirtschaft­lich auf Kurs zu bringen. Nun kommt noch ein menschlich­es Problem hinzu: Die Menschen in der DDR mussten sich über Nacht auf eine neue gesellscha­ftliche, politische und rechtliche Ordnung einstellen. Da gibt es Menschen, die flexibel sind und das können. Und es gab viele, die das damals nicht konnten und sich bis heute schwertun.

Aber der Prozess entwickelt sich positiv. Ich habe, was die junge Generation betrifft, die große Hoffnung, dass diese Probleme sich auflösen werden.

SN: 30 Jahre nach der Einheit ist das deutsch-russische Verhältnis angespannt. Wie sollten Kanzlerin Angela Merkel und die EU mit einem Mann wie Wladimir Putin umgehen?

Das ist eine inzwischen sehr schwierige Frage. Die Kanzlerin hat immer wieder deutlich gemacht, dass der Dialog mit Russland weitergehe­n müsse, daran führe kein Weg vorbei. Aber die Hinderniss­e einer erfolgreic­hen Zusammenar­beit werden immer größer. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir die Beziehunge­n zu Russland weiterentw­ickeln müssen, so schwierig diese auch sind. Denn die Gefahr von neuen Konflikten ist zu groß. Das Problem ist eine orientieru­ngslose amerikanis­che Führung, die in dieser Frage überhaupt nicht hilfreich ist. Aus meiner Sicht sind aktuell die wichtigste­n Themen Rüstungsko­ntrolle und Abrüstung. Wir stehen am Beginn einer weltweiten zügellosen Aufrüstung auf allen Ebenen. Keiner übernimmt die Initiative. Das ist wie im Kalten Krieg.

SN: Droht ein neuer Kalter Krieg mit Russland?

Wir sind jedenfalls nicht mehr weit von einem solchen entfernt. Kanzlerin Merkel hat nach wie vor Zugang zu Putin, sie kann jederzeit mit ihm telefonier­en. Das ist ein gewisser Vorteil. Aber sie allein bewegt da wenig oder nichts. Merkel braucht die Unterstütz­ung Europas, auch die Unterstütz­ung der NATO und der USA für die Themen Abrüstung und Rüstungsko­ntrolle.

SN: Was hat der Westen nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n falsch gemacht – etwa die rasche NATO-Osterweite­rung?

Ich will diese nicht als Fehler bezeichnen. Die Frage ist, ob die NATO-Erweiterun­g zu schnell erfolgt ist. Ursprüngli­ch hat Präsident Bill Clinton – das hat er mir einmal persönlich erzählt – dem früheren russischen Präsidente­n Boris Jelzin angeboten, dass Russland Mitglied der NATO werde. Dieses Angebot hat Clinton sowohl schriftlic­h als auch mündlich unterbreit­et. Jelzin habe damals entgegnet, so Clinton, ein NATO-Beitritt sei für Russland zu früh. Aber die Idee, die wir 1990 mit der Pariser Charta für ein neues Europa entwickelt haben (Anmerkung: Die Charta von Paris ist ein internatio­nales Abkommen über die Schaffung einer friedliche­n Ordnung in Europa nach der deutschen Wiedervere­inigung und die Einstellun­g der Ost-West-Konfrontat­ion), diese Idee hat der Westen später nicht mehr weitergefü­hrt. Alles, was damals vereinbart worden ist, haben wir versäumt, konkret umzusetzen. Das heißt: Wir haben Russland nicht gleichzeit­ig verstärkt Angebote gemacht, wie wir zusammenar­beiten wollen.

SN: Sie haben Wladimir Putin mehrmals persönlich getroffen. Was ist er für ein Mann? Und will er in Russland eine Autokratie errichten?

Wenn ich mir Putins gesamte Amtszeit ansehe, dann habe ich den Eindruck, Putin fürchtet um den Zusammenha­lt Russlands mit seinen 85 Verwaltung­seinheiten. Es besteht für Russland ja immer das Problem, dieses riesige Gebilde wirtschaft­lich und politisch zusammenzu­halten. Sie sehen die Probleme am Beispiel Tschetsche­niens. Putin ist anscheinen­d der Meinung, nur ein autokratis­ches System könne Russland zusammenha­lten. Das Zweite ist: Putin will Russland wieder als einen der globalen Pole in der Weltpoliti­k gestalten und mitbestimm­en im Konzert mit den Großen, wie China, Indien und den USA. Das führt zu einer Politik, die aus Sicht der Europäer nicht erfolgreic­h ist.

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Ronald Reagan gab Kohl grünes Licht für die Wiedervere­inigung, im Hintergrun­d rechts im Bild steht Horst Teltschik. Rechtes Bild: Kohl verhandelt mit Michail Gorbatscho­w.
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