Hintergrund
30 Jahre deutsche Wiedervereinigung: Ein Interview mit Helmut Kohls Berater
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Viele Jahre war Horst Teltschik (80) der Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und beteiligte sich an den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung. Von 1999 bis 2008 leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz.
SN: Horst Teltschik, wann haben Sie erkannt, dass die deutsche Einheit realisierbar wird?
Horst Teltschik: Im Sommer 1989 bin ich davon ausgegangen, dass die dramatischen Veränderungen in der Sowjetunion, in Polen und Ungarn Auswirkungen auf die DDR haben müssen. Und ich habe am 6. Juli 1989 in einem Zeitungsinterview gesagt, dass die deutsche Frage wieder auf der Tagesordnung der internationalen Politik stehen wird. Für diese Aussage bin ich heftig kritisiert worden.
SN: Von Helmut Kohl?
Kohl war nicht erfreut über dieses Interview. Mit Kohl haben wir dann die Entscheidung erst mit dem Fall der Mauer getroffen, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, operativ die Einheit anzustreben.
SN: Kurz nach dem Mauerfall 1989 haben Sie in Ihrem Büro im Bonner Kanzleramt den hochrangigen sowjetischen Politiker Nikolai Portugalow empfangen. Offenbar soll Ihnen Portugalow damals eine Reihe von
Fragen an Kanzler Helmut Kohl überreicht haben. Um was ging es da?
Portugalow sagte, sie hätten auf höchster politischer Ebene in Moskau über die Ereignisse in Deutschland diskutiert und sie hätten dazu eine Reihe von Fragen. Diese Fragen – handschriftlich notiert – sollte ich Kanzler Helmut Kohl vorlegen. Nachdem sie Kohl beantwortet habe, würde er die Antworten des Kanzlers in Moskau der höchsten Führung vorlegen. Die von Portugalow vorgetragenen Fragen machten mich hellhörig.
SN: Warum?
Weil sie sich allesamt um die Frage nach der Zukunft der beiden deutschen Staaten drehten. Eine der Frage war, ob sich Kohl eine Konföderation beider deutscher Staaten vorstellen könne. Ich bin dann mit den Fragen zu Kohl gegangen und habe ihm gesagt: Wenn jetzt die Sowjets beginnen, über die deutsche Frage nachzudenken, dann wird es höchste
Zeit, dass wir das auch tun und dass sich der Kanzler an die Spitze dieser Bewegung stellt.
SN:
Wie reagierte Kohl?
Kohl war mit meinem Vorschlag einverstanden. Danach führten wir ein Bungalow-Gespräch in kleinem Kreis in Kohls Privathaus in Bonn. Im Bundestag stand für die kommende Woche eine Rede Kohls zur Haushaltsdebatte an. Die Umfragewerte für die CDU waren damals schlecht.
Ich habe Kohl in jener kleinen Runde gesagt: Herr Bundeskanzler, es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, um in dieser wichtigen Rede die Zukunft Deutschlands zu thematisieren. Kohl wandte sich zu mir und sagte: „Gut, Teltschik, bereiten Sie die Rede vor!“Das tat ich. Herausgekommen war die Rede mit dem berühmten Zehn-Punkte-Plan, in der Kohl am 28. November 1989 im Bundestag die Pläne zur stufenweisen Wiedervereinigung erläutert hatte. Das passierte zur Überraschung des Auslands und der Führung in der DDR.
SN: Wie erlebten Sie Helmut Kohl in diesen Tagen? War er nervös, hatte er Angst, dass die Einheit scheitern könnte?
Ich habe Kohl nie ängstlich erlebt. Er war natürlich vorsichtig, er wusste ja, dass es nicht nur eine Angelegenheit ist, die Deutschland betrifft. Sondern dass wir aufgrund der Viermächteverantwortung die Zustimmung der drei Westmächte und der Sowjetunion brauchten. Kohl und ich gingen davon aus, dass es fünf bis zehn Jahre bis zur deutschen Einheit dauern würde.
SN: Was war schwieriger: die Sowjets von der Einheit zu überzeugen – oder die Briten unter der Ägide von Margaret Thatcher?
Wichtiger für die Einheits-Frage war für uns natürlich Gorbatschow. Gorbatschow hatte auf Kohls Zehn-Punkte-Rede zunächst sehr negativ reagiert. Er sagte gegenüber unserem Außenminister Hans-Dietrich Genscher, diese Rede sei ein Diktat aus Deutschland gegenüber der Sowjetunion und er werde dies nicht akzeptieren. Es war eine harte Absage. Gorbatschows Haltung änderte sich erst bei einem Gespräch mit Kohl Anfang Februar 1990. Gorbatschow hatte in den Monaten zuvor seit dem Fall der Mauer gegenüber Kohl in mehreren Telefongesprächen vor allem einen Wunsch geäußert: nämlich alles unter Kontrolle zu behalten, Ruhe zu bewahren und kein Chaos entstehen zu lassen. Aber er hat gegenüber Kohl keine Andeutungen gemacht, dass er bereit wäre, in Richtung deutsche Einheit zu gehen. Gorbatschows Hoffnung war noch im Sommer 1989, dass die BRD zu einem der wichtigsten wirtschaftli
chen Partner der Sowjetunion werden sollte.
SN: Margaret Thatcher stand der Idee einer Wiedervereinigung auch skeptisch gegenüber.
Thatcher sprach einen Punkt an, der nicht ganz von der Hand zu weisen ist, wenn Sie heute Europa ansehen. Sie sagte: Wir haben eine relativ stabile Nachkriegsordnung entwickelt. Sicherlich, es herrschte der Kalte Krieg, aber die Lage war stabil und berechenbar. Mit der deutschen Einheit, sagte Thatcher, verändere sich Europa, ohne dass eine neue gesamteuropäische Struktur erkennbar sei. Das bereite ihr Sorgen.
Aber damals hat uns der amerikanische Präsident George H. W. Bush sehr dabei geholfen, Thatcher dazu zu bringen, ihre Skepsis abzulegen.
SN: 30 Jahre nach der Einheit: Ist die Einheit vollzogen, ist sie eine Erfolgsgeschichte?
Absolut, natürlich. Auch wenn sie viele Menschen aus den neuen Bundesländern heute kritisieren mögen, weil manches nicht so optimal gelaufen ist, wie sie sich das vorgestellt haben. Aber es gab ja keine Erfahrung damit, ein sozialistisches mit einem kapitalistischen Land zusammenzuführen. Was viele vergessen in Ostdeutschland: Es gab 1990 durchaus eine Reihe von gefährlichen Entwicklungen,
die sofort hätten dazu führen können, dass der ganze Einigungsprozess von der Sowjetunion militärisch beendet worden wäre. Mir hat der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse einmal persönlich erzählt, dass sie in der sowjetischen Führung im Jänner 1990 darüber nachgedacht haben, die sowjetischen Truppen in der DDR zu mobilisieren und die Grenze wieder dicht zu machen. Es gab im Juli 1990 auf dem Parteitag der KPDSU die große Gefahr eines Putsches gegen Gorbatschow. Als im August 1990 der Irak-Konflikt begann, hatten die Amerikaner kaum noch Interesse an der deutschen Frage.
Ich sage noch heute: Wäre der Irak-Krieg früher losgegangen, hätten wir Probleme bekommen können. Es gab damals eine Reihe von krisenhaften Entwicklungen, die den Prozess der Einigung Deutschlands sofort hätten beenden können. Deshalb war es gut und richtig, jede Chance zu nutzen, und den Prozess so schnell wie möglich durchzuführen.
SN: Die Euphorie im Land scheint heute allerdings verflogen zu sein.
Die deutsche Bevölkerung ist gespalten. Was läuft heute schief in Deutschland?
Nach dem Zusammenbruch der DDR gab es rund 1,2 Millionen ehemalige SED-Mitglieder und Staatsfunktionäre, zudem waren über 100.000 ehemalige Stasi-Mitarbeiter im Land. All diese Menschen haben sämtliche ihrer Privilegien verloren, die sie noch in der DDR hatten. Dass viele dieser Leute bis heute nicht glücklich über die Wiedervereinigung sind, ist logisch. Außerdem: Keiner von uns wusste damals, wie katastrophal die wirtschaftliche Lage der DDR wirklich war. Sie war viel schlimmer, als wir gedacht hatten, und es brauchte Zeit und Opfer, um Ostdeutschland wirtschaftlich auf Kurs zu bringen. Nun kommt noch ein menschliches Problem hinzu: Die Menschen in der DDR mussten sich über Nacht auf eine neue gesellschaftliche, politische und rechtliche Ordnung einstellen. Da gibt es Menschen, die flexibel sind und das können. Und es gab viele, die das damals nicht konnten und sich bis heute schwertun.
Aber der Prozess entwickelt sich positiv. Ich habe, was die junge Generation betrifft, die große Hoffnung, dass diese Probleme sich auflösen werden.
SN: 30 Jahre nach der Einheit ist das deutsch-russische Verhältnis angespannt. Wie sollten Kanzlerin Angela Merkel und die EU mit einem Mann wie Wladimir Putin umgehen?
Das ist eine inzwischen sehr schwierige Frage. Die Kanzlerin hat immer wieder deutlich gemacht, dass der Dialog mit Russland weitergehen müsse, daran führe kein Weg vorbei. Aber die Hindernisse einer erfolgreichen Zusammenarbeit werden immer größer. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir die Beziehungen zu Russland weiterentwickeln müssen, so schwierig diese auch sind. Denn die Gefahr von neuen Konflikten ist zu groß. Das Problem ist eine orientierungslose amerikanische Führung, die in dieser Frage überhaupt nicht hilfreich ist. Aus meiner Sicht sind aktuell die wichtigsten Themen Rüstungskontrolle und Abrüstung. Wir stehen am Beginn einer weltweiten zügellosen Aufrüstung auf allen Ebenen. Keiner übernimmt die Initiative. Das ist wie im Kalten Krieg.
SN: Droht ein neuer Kalter Krieg mit Russland?
Wir sind jedenfalls nicht mehr weit von einem solchen entfernt. Kanzlerin Merkel hat nach wie vor Zugang zu Putin, sie kann jederzeit mit ihm telefonieren. Das ist ein gewisser Vorteil. Aber sie allein bewegt da wenig oder nichts. Merkel braucht die Unterstützung Europas, auch die Unterstützung der NATO und der USA für die Themen Abrüstung und Rüstungskontrolle.
SN: Was hat der Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion falsch gemacht – etwa die rasche NATO-Osterweiterung?
Ich will diese nicht als Fehler bezeichnen. Die Frage ist, ob die NATO-Erweiterung zu schnell erfolgt ist. Ursprünglich hat Präsident Bill Clinton – das hat er mir einmal persönlich erzählt – dem früheren russischen Präsidenten Boris Jelzin angeboten, dass Russland Mitglied der NATO werde. Dieses Angebot hat Clinton sowohl schriftlich als auch mündlich unterbreitet. Jelzin habe damals entgegnet, so Clinton, ein NATO-Beitritt sei für Russland zu früh. Aber die Idee, die wir 1990 mit der Pariser Charta für ein neues Europa entwickelt haben (Anmerkung: Die Charta von Paris ist ein internationales Abkommen über die Schaffung einer friedlichen Ordnung in Europa nach der deutschen Wiedervereinigung und die Einstellung der Ost-West-Konfrontation), diese Idee hat der Westen später nicht mehr weitergeführt. Alles, was damals vereinbart worden ist, haben wir versäumt, konkret umzusetzen. Das heißt: Wir haben Russland nicht gleichzeitig verstärkt Angebote gemacht, wie wir zusammenarbeiten wollen.
SN: Sie haben Wladimir Putin mehrmals persönlich getroffen. Was ist er für ein Mann? Und will er in Russland eine Autokratie errichten?
Wenn ich mir Putins gesamte Amtszeit ansehe, dann habe ich den Eindruck, Putin fürchtet um den Zusammenhalt Russlands mit seinen 85 Verwaltungseinheiten. Es besteht für Russland ja immer das Problem, dieses riesige Gebilde wirtschaftlich und politisch zusammenzuhalten. Sie sehen die Probleme am Beispiel Tschetscheniens. Putin ist anscheinend der Meinung, nur ein autokratisches System könne Russland zusammenhalten. Das Zweite ist: Putin will Russland wieder als einen der globalen Pole in der Weltpolitik gestalten und mitbestimmen im Konzert mit den Großen, wie China, Indien und den USA. Das führt zu einer Politik, die aus Sicht der Europäer nicht erfolgreich ist.