Gastkommentar
von O. P. Zier
Dramatische Engpässe bei der Versorgung mit Schutzkleidung und -masken infolge unterbrochener Lieferketten machten zu Beginn der Pandemie auch der Allgemeinheit den enormen Grad der Globalisierung unserer Wirtschaft bewusster. Und plötzlich sprach man in Zeiten profitsteigernder Just-in-time-Lieferungen aus der ganzen Welt und Outsourcing von Produktionen rund um den Erdball von so altmodischen Kostentreibern wie Lagerhaltung und Herstellung – etwa überlebenswichtiger Medikamente – zumindest innerhalb von Europa.
Mich erinnerte das an meine sechsjährige Tätigkeit im Einkaufsmanagement der Aluminiumfabrik in Lend. Die Firma, die schon seit ihrem Beginn 1898 im Ein- wie im Verkauf international agierte, betrieb damals noch eine breit gefächerte Lagerhaltung, um nicht von allfälligen Lieferproblemen gar zum extrem teuren Abschalten der Hochöfen gezwungen zu werden. Und wir im Einkauf – mein Kollege als Leiter und ich als sein Stellvertreter – riskierten nicht sofort Kopf und Kragen, wenn wir uns gelegentlich kleine ökonomieferne Regungen von Menschlichkeit erlaubten. Gegenüber Lieferanten wie dem Herrn Ager aus Rauris etwa, der ein kleines Sägewerk und ein
Gasthaus betrieb und für den wir ein sehr wichtiger Großkunde waren, während er zu unseren Kleinlieferanten zählte, dem wir nicht ständig die Daumenschrauben anzogen, sondern Fichtenkanthölzer und Paletten zu Preisen kauften, die ihm und seinen Arbeitern das Überleben ermöglichten. Wir hegten Sympathie für den Mann und sein Bemühen, bloß nicht großsprecherisch aufzutreten, also schon das Vorzimmer leicht gebückt mit zaghaften Schritten zu durchqueren und uns so als „die Herren vom Einkauf“zu begrüßen, als habe er Angehörige eines alten Adelsgeschlechtes vor sich.
Als ich vor mehr als vier Jahrzehnten die Firma verließ, um freier Autor zu werden, stand zwar die große Revolution der Digitalisierung noch bevor, war aber mit dem drahtigen, jungen neuen deutschen Geschäftsführer, der dem rundlichen, humanen und sich gelegentlich auch noch ein verschmitztes Lächeln gönnenden Dr. Voser aus der Schweiz folgte, die neue Zeit als eine Art Personalisierung der permanenten Kostenreduktion auch nach Lend gekommen. Als Erstes gab er uns die schnellstmögliche Senkung sämtlicher Lagerbestände vor.
Er selbst richtete sein Augenmerk auch weniger auf die Aluminiumproduktion als auf die beträchtlichen Summen, die über den wechselnden Dollarkurs zu holen waren.
Dabei hatte auch der kühle Karrierist Witz:
Als wir ihm einen neuen Dienstwagen beschafften und es den alten zu verkaufen galt, fragte er: „Gibt es hier denn keine Zuhälter, die für solche Schlitten jede Summe bezahlen?“
Apropos Zuhälter: Meine Berufswelt war längst eine völlig andere, als eine Art Messias des Einkaufswesens durch die Medien geisterte: José Ignacio López, der seine Mitarbeiter „Krieger“nannte und mit ihnen bei Zulieferfirmen einzumarschieren pflegte, um ihnen vor Ort die Möglichkeiten radikalster Kostensenkung vor Augen zu führen, schloss er doch mehrjährige Verträge nur zu jährlich sinkenden Lieferpreisen ab (mit denen dann auch die Qualität der fertigen Produkte sank). Von Wirtschaftsblättern „Der Würger von Rüsselsheim“genannt, hätte er einen Herrn Ager und die armen Teufel seiner Sägewerksarbeiter wohl in einer Minute brotlos gemacht …