Worum es eigentlich geht, wenn Wien wählt
Wien ist Österreichs einzige Millionenstadt. Fast jeder dritte Österreicher lebt in der Bundeshauptstadt oder im Speckgürtel, der sie umgibt. Wahlen in Wien haben daher Bedeutung weit über Wien hinaus.
Von Moria bis Ibiza: Im Wahlkampf für die Wiener Gemeinderatswahl am 11. Oktober geht es um viele Themen. Nur nicht um jene Themen, um die es eigentlich gehen sollte, weil sie für die Zukunft Wiens wesentlich sind. Wir haben vier davon herausgegriffen.
Verkehr
Knapp vor der Wahl sprach der Bürgermeister ein Machtwort beziehungsweise, je nach Sichtweise, beging er ein Foul an seiner grünen Koalitionspartnerin Birgit Hebein: Die von Hebein und dem türkisen Bezirksvorsteher der Inneren Stadt, Markus Figl, geplante autofreie City werde es nicht geben, dekretierte der Bürgermeister, der sich bei seinem Veto auf rechtliche Bedenken des Wiener Magistrats berief.
Hebeins Prestigeprojekt einer autofreien City war ein PR-Produkt, denn aufgrund der vielen von der grünen Planungsstadträtin vorgesehen Ausnahmeregelungen wäre von „autofrei“keine Rede gewesen. Dazu kommt, dass die Teilverbannung der Autos aus dem historischen Zentrum Wiens die Verkehrsprobleme der Bundeshauptstadt nicht einmal ansatzweise löst.
Wien verfügt über ein ausgezeichnetes Netz an Öffis, auf das die Stadt zu Recht stolz ist. Das Problem liegt nicht im Verkehr in Wien, sondern im Verkehr nach Wien. Nach Angaben der Rechercheplattform Addendum fahren täglich rund 268.000 Pendler zur Arbeit nach Wien. Davon nach Angaben der Arbeiterkammer vier Fünftel mit dem Auto. Entsprechend verstopft sind zwei Mal täglich die Stadteinfahrten, die Hauptdurchzugsstraßen und die Donau-Querungen. Die Wiener Südosttangente ist Hauptdarstellerin im Ö3-Verkehrsfunk. Die Situation wird sich verschärfen. Nicht nur, weil Wien stark wächst, sondern auch, weil die Umlandgemeinden immer mehr Bewohner anziehen. Allein die Region Schwechat wird laut Statistik Austria in den nächsten 20 Jahren um 21,3 Prozent wachsen.
Was tun? Die Verkehrsprobleme Wiens beginnen weit vor den Toren der Stadt, sie können also nur mithilfe der ÖBB und der Länder Niederösterreich und Burgenland gelöst werden. Das soll auch geschehen. Im Dezember 2019 gaben die Landeshauptleute der drei Bundesländer bekannt, dass das Öffi-Angebot im Verkehrsverbund Ostregion (VOR) in den kommenden zehn Jahren massiv ausgebaut werden soll. Bis 2030 sollen die Schienenkilometer um ein Viertel zunehmen. Bei Eisenstadt soll ein neuer Bahnhof errichtet werden, der die Burgenland-Pendler abfangen soll. Die wahlwerbenden Parteien setzen durchwegs auf einen weiteren Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel bis an den Stadtrand, die Grünen wollen die Jahreskarte für den öffentlichen Verkehr (derzeit 365 Euro) für ein Jahr gratis anbieten.
Wohnen
Das rote Wien begann vor exakt hundert Jahren mit der Errichtung Tausender Gemeindewohnungen
und linderte mit diesem kommunalpolitischen Kraftakt die Wohnungsnot. Dies wirkt sich bis heute positiv aus. Fast ein Viertel der Wiener Bevölkerung wohnt in einer gemeindeeigenen Wohnung, die dort üblichen erschwinglichen Mieten drücken auf die Wohnungspreise im privaten Sektor.
2004 stellte die Gemeinde Wien die Errichtung neuer Gemeindebauten für anderthalb Jahrzehnte ein, und Zufall oder nicht: Seither sind die Wohnungspreise in Wien rasant gestiegen. Allein 2019 kletterten die Preise für Wohnungseigentum im Jahresvergleich um fast zehn Prozent nach oben, und auch hier ist die Tendenz wohl steigend. Denn Wien wird in den kommenden Jahren stark wachsen, 2027 soll die Zwei-Millionen-EinwohnerGrenze überschritten werden. Wohnen wurde und wird vor allem für Neumieter teuer, während Altmieter – was den Wohnungsmarkt extrem verzerrt – oftmals seit Jahrzehnten zu Billigmieten in großen Altbauwohnungen leben.
Um die Preisentwicklung zu dämpfen, nahm die Stadt Wien den Wohnungsbau wieder auf. Vor knapp einem Jahr wurde der erste Gemeindebau seit 15 Jahren, der Barbara-Prammer-Hof mit 120 Wohnungen, eröffnet. 4000 weitere Gemeindewohnungen sollen folgen. Die ÖVP stellt die Gemeindewohnungen nicht grundsätzlich infrage, sie bezichtigt die SPÖ aber, durch überbordende Gebühren für Wasser und Müllentsorgung die Mieten in die Höhe zu treiben. Im Übrigen sind die Gemeindewohnungen Gegenstand von Wahlkampf-Polemik: ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel will Wohnungen nur an Bewerber vergeben, die entsprechende Deutschkenntnisse haben. Die FPÖ will Gemeindewohnungen nur an österreichische Staatsbürger vergeben.
Integration
Die Themen Asyl und Migration kommen im aktuellen Wahlkampf vor allem in der Debatte rund um mögliche Aufnahmen von Asylsuchenden aus den desolaten griechischen Lagern auf Lesbos vor, Stichwort Moria. Die Positionen der Parteien sind seit Wochen bekannt. Rot und Grün sind für die Aufnahme, vor allem von Kindern. Die restlichen Parteien sind dagegen.
Praktisch keine Rolle in den Debatten spielen derzeit die Integ rat ions herausforderungen inder Bundeshauptstadt. Dabei gäbe es hier genügend zu besprechen. Vor allem im Bildungsbereich gehört das Thema zu den täglichen Herausforderungen.
Laut dem aktuellen Integrationsbericht haben an Wiener Mittelschulen bereits mehr als drei Viertel der Jugendlichen nicht Deutsch als Umgangssprache. Der Anteil an Kindern mit nicht deutscher Umgangssprache in der Kinderbetreuung stieg innerhalb von zehn Jahren von 43,5 auf 60 Prozent. Laut den Experten, die den Integrationsbericht erstellen, ist das per se noch kein Problem. Doch die Untersuchungen zeigen, dass zwei Drittel der Kinder mit Migrationshintergrund die Bildungsstandards im Lesen nicht erreichen. Die Experten plädieren unter anderem für ein verpflichtendes zweites Kindergartenjahr.
Probleme zeigen sich auch bei der Integration in die Gesellschaft, vor allem infolge der Fluchtbewegungen der vergangenen Jahre aus dem Bürgerkriegsland Syrien und aus Afghanistan. Viele der Geflohenen leben in der Bundeshauptstadt. Nur 31 Prozent der Personen mit syrischem und 34 Prozent mit afghanischem Migrationshintergrund fühlen laut einer Studie von Kenan Güngör eine Zugehörigkeit zu Österreich.
Die vielen ausländischen Staatsbürger in Wien (rund 589.000 Personen) sind mittlerweile selbst zum Thema der Wahl geworden. Denn aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft sind rund 30,1 Prozent der in Wien lebenden Personen im wahlberechtigten Alter von der Wahl ausgeschlossen. Die größte Gruppe an Ausländern waren laut Statistik Austria mit Stand Anfang 2020 übrigens Serben (rund 77.800), gefolgt von Deutschen (49.500) und Türken (45.800).
Wirtschaft
Corona ist das alles überschattende Thema bei der Wien-Wahl. Wobei vor allem die Fallzahlen und die teilweise langen Wartezeiten bei der Corona-Hotline Kontroversen auslösen. Doch auf die Bundeshauptstadt kommen mit der Pandemie auch sehr große wirtschaftliche Herausforderungen zu. Im September war fast ein Viertel mehr Menschen in Wien auf Jobsuche als vor einem Jahr. Die Zahl der arbeitslos gemeldeten Personen und der Schulungsteilnehmer ist in Summe um 23,5 Prozent gegenüber dem Vergleichsmonat 2019 gestiegen, teilte das AMS Wien vor Kurzem per Aussendung mit. Immerhin gab es im Vergleich zum Vormonat August einen leichten Rückgang von 2,2 Prozent.
Den stärksten Anstieg bei den Arbeitslosen und AMS-Schulungsteilnehmern im September im Vergleich zum Vorjahresmonat verzeichnete übrigens Tirol (+41,6 Prozent), den niedrigsten Kärnten (+11,5 Prozent). Wien lag nach Vorarlberg und Salzburg auf Platz vier.
Gegenüber dem Höchststand bei der Arbeitslosigkeit, der Ende März – also in der strengsten Phase des Corona-Lockdowns – verzeichnet wurde, gab es sechs Monate später immerhin bereits um 15,8 Prozent oder 31.110 weniger Jobsuchende, hieß es.
In Wien fielen laut einer WifoStudie besonders viele Arbeitsstellen im Tourismus weg. Der coronabedingte Einbruch der Nächtigungen hat Wien besonders stark getroffen, weil die ausländischen Städtetouristen weggeblieben sind. In Wien will man die Gastro- und Tourismusbranche nicht noch mehr schwächen, weshalb man darauf verzichtet, die Sperrstunde auf 22.00 Uhr vorzuverlegen. Die coronabedingte Gästeregistrierung wird deshalb als geringeres Übel gesehen. Auch die Wiener Gastro-Gutschein-Aktion sollte die Branche unterstützten. Mehr als drei Viertel aller verschickten Bons im Wert von 25 Euro (Ein-Personen-Haushalte) bzw. 50 Euro (Mehr-PersonenHaushalte) wurden tatsächlich genutzt. Insgesamt wurden rund 718.000 Gutscheine eingelöst. Ganz ohne Wahlkampf-Hintergedanken natürlich.