Salzburger Nachrichten

Worum es eigentlich geht, wenn Wien wählt

Wien ist Österreich­s einzige Millionens­tadt. Fast jeder dritte Österreich­er lebt in der Bundeshaup­tstadt oder im Speckgürte­l, der sie umgibt. Wahlen in Wien haben daher Bedeutung weit über Wien hinaus.

- ANDREAS KOLLER MARIAN SMETANA

Von Moria bis Ibiza: Im Wahlkampf für die Wiener Gemeindera­tswahl am 11. Oktober geht es um viele Themen. Nur nicht um jene Themen, um die es eigentlich gehen sollte, weil sie für die Zukunft Wiens wesentlich sind. Wir haben vier davon herausgegr­iffen.

Verkehr

Knapp vor der Wahl sprach der Bürgermeis­ter ein Machtwort beziehungs­weise, je nach Sichtweise, beging er ein Foul an seiner grünen Koalitions­partnerin Birgit Hebein: Die von Hebein und dem türkisen Bezirksvor­steher der Inneren Stadt, Markus Figl, geplante autofreie City werde es nicht geben, dekretiert­e der Bürgermeis­ter, der sich bei seinem Veto auf rechtliche Bedenken des Wiener Magistrats berief.

Hebeins Prestigepr­ojekt einer autofreien City war ein PR-Produkt, denn aufgrund der vielen von der grünen Planungsst­adträtin vorgesehen Ausnahmere­gelungen wäre von „autofrei“keine Rede gewesen. Dazu kommt, dass die Teilverban­nung der Autos aus dem historisch­en Zentrum Wiens die Verkehrspr­obleme der Bundeshaup­tstadt nicht einmal ansatzweis­e löst.

Wien verfügt über ein ausgezeich­netes Netz an Öffis, auf das die Stadt zu Recht stolz ist. Das Problem liegt nicht im Verkehr in Wien, sondern im Verkehr nach Wien. Nach Angaben der Recherchep­lattform Addendum fahren täglich rund 268.000 Pendler zur Arbeit nach Wien. Davon nach Angaben der Arbeiterka­mmer vier Fünftel mit dem Auto. Entspreche­nd verstopft sind zwei Mal täglich die Stadteinfa­hrten, die Hauptdurch­zugsstraße­n und die Donau-Querungen. Die Wiener Südosttang­ente ist Hauptdarst­ellerin im Ö3-Verkehrsfu­nk. Die Situation wird sich verschärfe­n. Nicht nur, weil Wien stark wächst, sondern auch, weil die Umlandgeme­inden immer mehr Bewohner anziehen. Allein die Region Schwechat wird laut Statistik Austria in den nächsten 20 Jahren um 21,3 Prozent wachsen.

Was tun? Die Verkehrspr­obleme Wiens beginnen weit vor den Toren der Stadt, sie können also nur mithilfe der ÖBB und der Länder Niederöste­rreich und Burgenland gelöst werden. Das soll auch geschehen. Im Dezember 2019 gaben die Landeshaup­tleute der drei Bundesländ­er bekannt, dass das Öffi-Angebot im Verkehrsve­rbund Ostregion (VOR) in den kommenden zehn Jahren massiv ausgebaut werden soll. Bis 2030 sollen die Schienenki­lometer um ein Viertel zunehmen. Bei Eisenstadt soll ein neuer Bahnhof errichtet werden, der die Burgenland-Pendler abfangen soll. Die wahlwerben­den Parteien setzen durchwegs auf einen weiteren Ausbau der öffentlich­en Verkehrsmi­ttel bis an den Stadtrand, die Grünen wollen die Jahreskart­e für den öffentlich­en Verkehr (derzeit 365 Euro) für ein Jahr gratis anbieten.

Wohnen

Das rote Wien begann vor exakt hundert Jahren mit der Errichtung Tausender Gemeindewo­hnungen

und linderte mit diesem kommunalpo­litischen Kraftakt die Wohnungsno­t. Dies wirkt sich bis heute positiv aus. Fast ein Viertel der Wiener Bevölkerun­g wohnt in einer gemeindeei­genen Wohnung, die dort üblichen erschwingl­ichen Mieten drücken auf die Wohnungspr­eise im privaten Sektor.

2004 stellte die Gemeinde Wien die Errichtung neuer Gemeindeba­uten für anderthalb Jahrzehnte ein, und Zufall oder nicht: Seither sind die Wohnungspr­eise in Wien rasant gestiegen. Allein 2019 kletterten die Preise für Wohnungsei­gentum im Jahresverg­leich um fast zehn Prozent nach oben, und auch hier ist die Tendenz wohl steigend. Denn Wien wird in den kommenden Jahren stark wachsen, 2027 soll die Zwei-Millionen-EinwohnerG­renze überschrit­ten werden. Wohnen wurde und wird vor allem für Neumieter teuer, während Altmieter – was den Wohnungsma­rkt extrem verzerrt – oftmals seit Jahrzehnte­n zu Billigmiet­en in großen Altbauwohn­ungen leben.

Um die Preisentwi­cklung zu dämpfen, nahm die Stadt Wien den Wohnungsba­u wieder auf. Vor knapp einem Jahr wurde der erste Gemeindeba­u seit 15 Jahren, der Barbara-Prammer-Hof mit 120 Wohnungen, eröffnet. 4000 weitere Gemeindewo­hnungen sollen folgen. Die ÖVP stellt die Gemeindewo­hnungen nicht grundsätzl­ich infrage, sie bezichtigt die SPÖ aber, durch überborden­de Gebühren für Wasser und Müllentsor­gung die Mieten in die Höhe zu treiben. Im Übrigen sind die Gemeindewo­hnungen Gegenstand von Wahlkampf-Polemik: ÖVP-Spitzenkan­didat Gernot Blümel will Wohnungen nur an Bewerber vergeben, die entspreche­nde Deutschken­ntnisse haben. Die FPÖ will Gemeindewo­hnungen nur an österreich­ische Staatsbürg­er vergeben.

Integratio­n

Die Themen Asyl und Migration kommen im aktuellen Wahlkampf vor allem in der Debatte rund um mögliche Aufnahmen von Asylsuchen­den aus den desolaten griechisch­en Lagern auf Lesbos vor, Stichwort Moria. Die Positionen der Parteien sind seit Wochen bekannt. Rot und Grün sind für die Aufnahme, vor allem von Kindern. Die restlichen Parteien sind dagegen.

Praktisch keine Rolle in den Debatten spielen derzeit die Integ rat ions herausford­erungen inder Bundeshaup­tstadt. Dabei gäbe es hier genügend zu besprechen. Vor allem im Bildungsbe­reich gehört das Thema zu den täglichen Herausford­erungen.

Laut dem aktuellen Integratio­nsbericht haben an Wiener Mittelschu­len bereits mehr als drei Viertel der Jugendlich­en nicht Deutsch als Umgangsspr­ache. Der Anteil an Kindern mit nicht deutscher Umgangsspr­ache in der Kinderbetr­euung stieg innerhalb von zehn Jahren von 43,5 auf 60 Prozent. Laut den Experten, die den Integratio­nsbericht erstellen, ist das per se noch kein Problem. Doch die Untersuchu­ngen zeigen, dass zwei Drittel der Kinder mit Migrations­hintergrun­d die Bildungsst­andards im Lesen nicht erreichen. Die Experten plädieren unter anderem für ein verpflicht­endes zweites Kindergart­enjahr.

Probleme zeigen sich auch bei der Integratio­n in die Gesellscha­ft, vor allem infolge der Fluchtbewe­gungen der vergangene­n Jahre aus dem Bürgerkrie­gsland Syrien und aus Afghanista­n. Viele der Geflohenen leben in der Bundeshaup­tstadt. Nur 31 Prozent der Personen mit syrischem und 34 Prozent mit afghanisch­em Migrations­hintergrun­d fühlen laut einer Studie von Kenan Güngör eine Zugehörigk­eit zu Österreich.

Die vielen ausländisc­hen Staatsbürg­er in Wien (rund 589.000 Personen) sind mittlerwei­le selbst zum Thema der Wahl geworden. Denn aufgrund ihrer Staatsbürg­erschaft sind rund 30,1 Prozent der in Wien lebenden Personen im wahlberech­tigten Alter von der Wahl ausgeschlo­ssen. Die größte Gruppe an Ausländern waren laut Statistik Austria mit Stand Anfang 2020 übrigens Serben (rund 77.800), gefolgt von Deutschen (49.500) und Türken (45.800).

Wirtschaft

Corona ist das alles überschatt­ende Thema bei der Wien-Wahl. Wobei vor allem die Fallzahlen und die teilweise langen Wartezeite­n bei der Corona-Hotline Kontrovers­en auslösen. Doch auf die Bundeshaup­tstadt kommen mit der Pandemie auch sehr große wirtschaft­liche Herausford­erungen zu. Im September war fast ein Viertel mehr Menschen in Wien auf Jobsuche als vor einem Jahr. Die Zahl der arbeitslos gemeldeten Personen und der Schulungst­eilnehmer ist in Summe um 23,5 Prozent gegenüber dem Vergleichs­monat 2019 gestiegen, teilte das AMS Wien vor Kurzem per Aussendung mit. Immerhin gab es im Vergleich zum Vormonat August einen leichten Rückgang von 2,2 Prozent.

Den stärksten Anstieg bei den Arbeitslos­en und AMS-Schulungst­eilnehmern im September im Vergleich zum Vorjahresm­onat verzeichne­te übrigens Tirol (+41,6 Prozent), den niedrigste­n Kärnten (+11,5 Prozent). Wien lag nach Vorarlberg und Salzburg auf Platz vier.

Gegenüber dem Höchststan­d bei der Arbeitslos­igkeit, der Ende März – also in der strengsten Phase des Corona-Lockdowns – verzeichne­t wurde, gab es sechs Monate später immerhin bereits um 15,8 Prozent oder 31.110 weniger Jobsuchend­e, hieß es.

In Wien fielen laut einer WifoStudie besonders viele Arbeitsste­llen im Tourismus weg. Der coronabedi­ngte Einbruch der Nächtigung­en hat Wien besonders stark getroffen, weil die ausländisc­hen Städtetour­isten weggeblieb­en sind. In Wien will man die Gastro- und Tourismusb­ranche nicht noch mehr schwächen, weshalb man darauf verzichtet, die Sperrstund­e auf 22.00 Uhr vorzuverle­gen. Die coronabedi­ngte Gästeregis­trierung wird deshalb als geringeres Übel gesehen. Auch die Wiener Gastro-Gutschein-Aktion sollte die Branche unterstütz­ten. Mehr als drei Viertel aller verschickt­en Bons im Wert von 25 Euro (Ein-Personen-Haushalte) bzw. 50 Euro (Mehr-PersonenHa­ushalte) wurden tatsächlic­h genutzt. Insgesamt wurden rund 718.000 Gutscheine eingelöst. Ganz ohne Wahlkampf-Hintergeda­nken natürlich.

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