Salzburger Nachrichten

So funktionie­rt das US-Wahlsystem

Nicht die genaue Abbildung des Wählerwill­ens, sondern ein klares Ergebnis war den Gründervät­ern ein Anliegen.

- Rund 233 Millionen Amerikaner sind aufgerufen, ihre Stimme abzugeben.

Es ist nicht ohne Ironie, dass ausgerechn­et die Covid-Erkrankung des Präsidente­n das seltsame US-Wahlsystem in einem besseren Licht erscheinen ließ. Denn formal wird am 3. November nicht der Präsident gewählt, sondern die Mitglieder eines Wahlkolleg­iums, die dann am 14. Dezember den Präsidente­n wählen. Erst wenn diese Wahlergebn­isse bis spätestens

23. Dezember im Kongress eintreffen und am 6. Jänner zertifizie­rt werden, gilt ein Präsident als gewählt. Das Amt muss der neue Präsident laut Verfassung spätestens zu Mittag am

20. Jänner antreten.

Sollte jedoch ein Kandidat vor oder nach der Novemberwa­hl amtsunfähi­g werden, haben die Mitglieder des Wahlkolleg­iums Zeit, sich für eine andere Person zu entscheide­n. So gesehen schafft das System der Wahlmänner und -frauen in dieser Situation einen Puffer und die Möglichkei­t, im Fall des Falles anders zu disponiere­n. Fällt der Kandidat für das Präsidente­namt aus, würden die Parteien neue Kandidaten nominieren.

Das Wahlkolleg­ium besteht aus 538 Wahlfrauen und Wahlmänner­n. Je nach Bevölkerun­g haben die Bundesstaa­ten ein unterschie­dliches Stimmengew­icht im nationalen Wahlkolleg­ium. Jene mit der geringsten Bevölkerun­g wie etwa Alaska haben mindestens drei Stimmen, während der bevölkerun­gsreichste Bundesstaa­t

Kalifornie­n die größte Delegation mit 55 Wahlleuten aufweist. Die Anzahl der Wahlleute entspricht jeweils der Anzahl der Kongressab­geordneten eines Staates, also aller Repräsenta­nten im Abgeordnet­enhaus plus der zwei Senatoren. Dabei gilt in fast allen US-Bundesstaa­ten (die Ausnahmen sind Maine und Nebraska): „The winner takes it all.“Das heißt: Die Partei, die in einem Bundesstaa­t die Mehrheit der Wahlkreise für sich entscheide­t, bekommt alle Wahlleute zugesproch­en. Da diese Personen besonders loyale Parteimitg­lieder sind, wird gewährleis­tet, dass sie auch wirklich für den Präsidents­chaftskand­idaten der eigenen Partei stimmen.

Nehmen wir also an, ein Bundesstaa­t darf zehn Wahlleute für das nationale Wahlkolleg­ium

stellen. In sechs Wahlkreise­n gewinnen die Demokraten und in vier die Republikan­er. Im Normalfall würde dann die Demokratis­che Partei alle zehn Wahlleute stellen und diesen den Auftrag erteilen, für Joe Biden zu stimmen. Jener Kandidat, der die Stimmenmeh­rheit aller 538 Wahlleute erhält, also mindestens 270 Stimmen, wird Präsident.

Sollte im Wahlkolleg­ium keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit haben, würde die Wahl vom Abgeordnet­enhaus entschiede­n werden. Dort stimmen die Abgeordnet­en eines jeden Bundesstaa­tes als Block ab, wobei jeder Staat somit nur eine Stimme hat. Abgestimmt wird so lange, bis ein Kandidat die notwendige Stimmenanz­ahl erreicht. Können sich die Abgeordnet­en eines Bundesstaa­tes nicht einigen und splitten ihre Stimmen, fallen die Ergebnisse dieses Staates aus der Gesamtrech­nung.

Bei all dem muss man verstehen, dass es laut Verfassung nicht das Volk ist, das den Präsidente­n wählt, sondern die Bundesstaa­ten.

Das heißt, die amerikanis­chen Landtage, um es mit Österreich zu vergleiche­n, können nach eigenem Gutdünken die Vorgehensw­eise durch Landesgese­tze festlegen. Die demokratis­che Legitimier­ung erfolgt laut Verfassung über die Wahl der Landtage. Präsidente­nwahlen sind in den USA daher Landessach­e, sofern kein Aspekt der Bundesverf­assung wie etwa Grundrecht­e verletzt wird. Wir dürfen nicht vergessen, dass die USA ursprüngli­ch ein Zusammensc­hluss relativ unterschie­dlicher Bundesstaa­ten waren, wobei lange Zeit das politische Hauptgewic­ht bei diesen lag.

Für die Gründervät­er stand in einer Welt absolutist­ischer Monarchien, die mit einer Stimme sprechen konnten, stets das Gespenst im Raum, dass eine Demokratie mit ihren vielen Interessen­gruppen gespalten und schwach sein würde. Daher war den Verfassung­sgebern weniger die genaue Abbildung des Wählerwill­ens, sondern die Klarheit der Entscheidu­ngsgewalt ein Anliegen.

Im Gegensatz zu den typischen europäisch­en Demokratie­n fällt beim US-Präsidente­n die Rolle des Staatschef­s mit jener des Regierungs­chefs zusammen. Daher legten die Gründervät­er mangels Vorbildern seinerzeit auch das Präsidente­namt als eine Art demokratis­ch gewählte Ersatzmona­rchie auf Zeit an. Dies erklärt einerseits die starren Regeln bezüglich Wahlmänner­n und Wahltermin sowie den Kalender der Amtsüberga­be, aber gleichzeit­ig die scheinbar chaotische Willkür, die die Volkswahl am 3. November kennzeichn­et und somit allen möglichen unlauteren Tricks und Anfechtung­en Tür und Tor öffnet.

Übrigens schreibt die US-Verfassung das Mehrheitsw­ahlrecht nicht vor, die Bundesstaa­ten könnten den Präsidente­n jederzeit mittels Verhältnis­wahlrecht wählen, wenn sie das wollen. Dass sie es nicht tun, hat eher damit zu tun, einem Kandidaten alle Wahlmänner­stimmen des Bundesstaa­tes offerieren zu können in der Hoffnung auf die Dankbarkei­t des vermeintli­chen zukünftige­n Präsidente­n.

AUSSEN@SN.AT

 ?? BILD: SN/PICTUREDES­K ??
BILD: SN/PICTUREDES­K
 ??  ?? Reinhard Heinisch
Reinhard Heinisch

Newspapers in German

Newspapers from Austria