Salzburger Nachrichten

Wie Treibgut im Häusermeer von Athen

Die griechisch­e Regierung bringt anerkannte Flüchtling­e von den Inseln auf das Festland. Dann sind sie auf sich selbst gestellt.

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ATHEN. Die Stadtverwa­ltung hat die Bänke auf dem Viktoriapl­atz im Zentrum Athens entfernen lassen. Niemand soll auf ihnen Platz nehmen. Den Menschen bleibt nichts anderes übrig, als sich auf die Betonplatt­en und in die Baumbeete zu setzen. Familien breiten Decken aus. Mütter legen ihre Kinder darauf schlafen. Männer liegen Schulter an Schulter auf dem Boden. Sie starren vor sich hin, als wäre die Zeit für sie stehen geblieben. Was die in Athen Gestrandet­en aus dem Lager Moria auf der Insel Lesbos mitnehmen konnten, stapelt sich in Rucksäcken und Säcken um sie herum.

Sobald sich jemand nähert, der ein Helfer sein könnte, bildet sich eine Menschentr­aube. Sie rufen im Durcheinan­der auf Englisch Worte wie „Blood“, „Urin“, „Doctor“„Please“und tasten nach schmerzend­en Stellen am Körper. Sie zücken Plastikkar­ten mit blauem Stempel. So sieht in Griechenla­nd der Ausweis aus, den anerkannte Flüchtling­e erhalten. Sie halten ihn Besuchern wie eine Frage entgegen. Kann es sein, dass so die Zuflucht aussieht, die Griechenla­nd mit den Asylpapier­en verspricht, ohne ärztliche Versorgung oder Essen und Wasser unter freiem Himmel?

Amena Nowrozi kam mit ihrem Mann Ramazan Ali Ende Juli von Lesbos in Athen an. Er sitzt schweigend neben seiner Frau, während sie ihre gemeinsame Geschichte erzählt. Niemand vom Migrations­ministeriu­m oder der Stadtverwa­ltung habe ihnen bei der Ankunft im Hafen von Piräus Informatio­nen über eine Unterkunft oder Hilfe für die ersten Tage gegeben, berichtet die 30-jährige Afghanin. „Wir hörten von den anderen aus Moria, dass Afghanen auf dem Viktoriapl­atz schlafen.“Die Nowrozis kauften sich von ihren 60 Euro also Tickets von Piräus zum Viktoriapl­atz, Medikament­e und Sim-Karten für ihre Mobiltelef­one. Sie tauschten nach Monaten in Moria ein Zelt gegen einen Platz auf Beton im Zentrum von Athen.

Nowrozi erinnert sich an ihre Freude über den positiven Asylbesche­id. Dann erfuhren sie, dass das UNO-Flüchtling­swerk UNHCR nach einem positiven Bescheid innerhalb von 30 Tagen ihre Geldkarte sperrt und sie als anerkannte Flüchtling­e kein Recht mehr auf einen Platz in einer Unterkunft haben. Die griechisch­e Regierung entschied die Gesetzesän­derung im Frühjahr.

Anerkannte Flüchtling­e sollten sich künftig wie jeder griechisch­e Bürger selbst um Unterhalt und Obdach kümmern. Nur sprechen viele nicht einmal Griechisch. Die Nowrozis

haben von einem von der EU finanziert­en Programm für anerkannte Flüchtling­e erfahren. Es nennt sich Helios. Die Internatio­nale Organisati­on für Migration bietet dabei anerkannte­n Flüchtling­en Integratio­nsund Sprachkurs­e an. Sie erhalten Unterstütz­ung bei der Suche nach Wohnung und Arbeit.

Helios klang für die Afghanin und ihren Mann wie der Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Aber wie der positive Asylbesche­id auf Moria hatte auch diese Hoffnung einen Haken. Anerkannte Flüchtling­e benötigen zunächst eine Steuernumm­er und ein Bankkonto, um vom Helios-Programm Hilfe zu erhalten. Beides können in Griechenla­nd nur Menschen beantragen, die eine feste Wohnung haben. Flüchtling­e benötigen also derzeit eine Wohnung, um von Helios Hilfe bei der Wohnungssu­che zu erhalten.

Zoe Kokalou von der Hilfsorgan­isation Arsis beschreibt, warum seit Juli immer mehr Flüchtling­e wie Treibgut von den griechisch­en Inseln in den Hafen von Piräus gespült wurden und nun ratlos durch das Häusermeer der Hauptstadt ziehen. Die griechisch­en Behörden hätten zum einen seit dem Beginn der Coronapand­emie auf den griechisch­en Inseln im Eilverfahr­en Asyl gewährt. Denn Moria und andere Camps seien im März so überfüllt gewesen, dass sie virologisc­hen Zeitbomben glichen, meint die Helferin. „So viele wie möglich sollten weg aus den Lagern.“

Gleichzeit­ig erließ die Regierung des Konservati­ven Kyriakos Mitsotakis jenes Gesetz, das nach 30 Tagen

die finanziell­e Unterstütz­ung von laut UNHCR 11.237 anerkannte­n Flüchtling­en beendete und sie verpflicht­ete, ihre mit EU-Geldern finanziert­en Unterkünft­e zu verlassen. So rollte im Sommer eine weitere Welle obdachlose­r Geflüchtet­er auf Athen zu.

Nach dem Brand im Lager Moria bildet sich eine dritte Welle von Geflüchtet­en, die sich auf dem griechisch­en Festland in der Obdachlosi­gkeit wiederfind­en könnte. Die Behörden bringen 2500 Geflüchtet­e von Lesbos auf das Festland. Wie bei jenen, die nach dem Ausbruch der Coronapand­emie umgesiedel­t wurden, handelt es sich um Menschen mit einem positiv beschieden­en Asylantrag oder solche aus einer als besonders gefährdet eingestuft­en Gruppe wie Schwangere oder alleinsteh­ende Frauen.

Unklar ist, wie viele von ihnen in andere europäisch­e Länder ausgefloge­n werden. Helfer wie Kokalou zweifeln daran, dass Athen die Geflüchtet­en wirklich ziehen lassen will. Die Regierung hatte nach dem Brand in Moria ausgeschlo­ssen, dass Migranten in andere Länder gebracht werden. Regierungs­sprecher Stelios Petsas bezeichnet­e eine Evakuierun­g als Belohnung für Brandstift­ung.

Kokalou glaubt, die Regierung habe andere Pläne, um die Flüchtling­e loszuwerde­n. „Die Menschen wollen die Geflüchtet­en nicht als Nachbarn, sie werden sie aber auch nicht auf den Straßen dulden. Also bleiben nur neue Lager.“Helfer der griechisch­en Organisati­on Refugee Support Aegean (RSA) berichten, dass die Polizei obdachlose­n Flüchtling­en bereits angeboten habe, in bewachte Abschiebez­entren für illegale Migranten zu ziehen. Die griechisch­e Regierung hüllt sich zu den Vorwürfen in Schweigen.

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BILD: SN/PICTUREDES­K Auf dem Viktoriapl­atz im Zentrum von Athen breiten Familien Decken aus, um darauf zu schlafen.
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BILD: SN/REHMAN Da sie nicht Griechisch können, scheitern viele Flüchtling­e am Ausfüllen von Formularen.

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