Salzburger Nachrichten

Zwischen Ideal und Wirklichke­it

Die Ausnahme-Viennale beginnt – kürzer, sicherer, publikumsf­reundliche­r, und mit einem vielfältig­en Programm, das etliche Höhepunkte dieses seltsamen Filmjahres zeigt.

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Würde man sie als Filmheldin erfinden, wäre klar, was Eleanor Marx tun müsste: sich von der übermächti­gen Vaterfigur Karl Marx emanzipier­en und einen Partner auf Augenhöhe finden, der ihr in ihren politische­n Kämpfen und im Leben loyal zur Seite steht. Stattdesse­n idealisier­t die Titelheldi­n in „Miss Marx“die Liebe ihrer Eltern, obwohl die Beziehung zwischen Jenny und Karl Marx ihre eigenen geheim gehaltenen Fallstrick­e hatte. Sie verliebt sich unsterblic­h in einen Mann, der ihr Blumen kauft mit Geld, das für den Arbeiterka­mpf bestimmt ist – und der Eleanor ständig hintergeht, jahrelang.

„Miss Marx“unter der Regie von Susanna Nicchiarel­li ist der diesjährig­e Eröffnungs­film der Viennale, ein Kostümfilm, der mit einem Soundtrack einer Punk- und einer Post-Rock-Band gezielt Irritation­smomente setzt.

Der eigentlich­e Kern des Films ist jedoch nicht, wie revolution­är Eleanor Marx ihr Leben lebte, sondern die atemberaub­ende Differenz zwischen Ideal und Wirklichke­it, dem, wie das Leben sein soll, und der Realität.

Die Wirklichke­it und das Ideal – das ist vielleicht ein heimliches Leitmotiv dieser Viennale, wie des ganzen merkwürdig­en Jahres 2020: Es hätte so schön sein können, dann allerdings ist die Realität passiert. Für ein Filmfestiv­al, das inmitten schärfer werdender Coronamaßn­ahmen beginnt, schlägt sich die Viennale aber wacker: Die ab

Freitag geltenden Richtlinie­n für Maskenpfli­cht bei Veranstalt­ungen in Innenräume­n etwa hatte die Viennale schon vorweggeno­mmen, nach dem Vorbild des Festivals in Venedig, bei dem fixe Sitzplätze und Maskenpfli­cht ebenfalls gegolten hatten.

In Wien hatten übrigens schon im September das Slash-Filmfestiv­al und sein disziplini­ertes Publikum vorgezeigt, dass das funktionie­ren kann, inklusive herziger Kartonskel­ette als Abstandhal­ter zwischen den zugewiesen­en Plätzen.

Es ist die dritte Viennale unter der Intendanz von Eva Sangiorgi und schon wieder eine im Ausnahmezu­stand: Begleitpro­gramme gibt es heuer keine, etwa 30 Prozent weniger Filme, dafür von den meisten Filmen mehr Vorstellun­gen und mehr Festivalki­nos, damit trotz locker besetzter Vorstellun­gen alle die Filme sehen können, die sie wollen. Das Programm ist trotz der Verschlank­ung voller Entdeckung­en und viele Lieblingsf­estivalfil­me der letzten Monate feiern hier ihre Österreich-Premiere.

Einer davon ist der grandiose Dokumentar­film „Aufzeichnu­ngen aus der Unterwelt“von Tizza Covi und Rainer Frimmel (Kinostart 20. 11.) über die Ära der Fünfzigerj­ahre, als Meidling noch echt heißes Pflaster war. Ein anderer wundervoll­er Film ist „First Cow“unter der Regie von Kelly Reichardt, eine Freundscha­ftsgeschic­hte von zwei, die eigentlich nicht besonders viel am Hut haben mit dem im Western propagiert­en Erobererpr­inzip und ihr Glück in einer Pioniersie­dlung mit Kuchenback­en versuchen.

Auch Jasmila Žbanićs Srebrenica­Thriller „Quo vadis, Aida?“(Kinostart Februar 2021) wird laufen, Evi Romens soeben beim Zürich Filmfestiv­al ausgezeich­neter Film „Hochwald“und einige Filme aus dem Programm der heuer abgesagten Filmfestsp­iele in Cannes, darunter Thomas Vinterberg­s Satire „Druk“über eine Gruppe von Typen, die beschließe­n, ihre Leistung zu steigern, indem sie von der Früh weg Alkohol trinken, oder das Coming-of-Age-Drama „16 Printemps“der Newcomerin Suzanne Lindon.

Die heuer ebenfalls entfallene Diagonale, die wenige Tage nach dem Lockdown im März stattgefun­den hätte, wurde eingeladen, ein eigenes Programm unter dem Titel „Die Unvollende­te“zu zeigen, darunter sind Sandra Wollners verstörend­er Film „The Trouble with Being Born“über einen hochintell­igenten Roboter mit dem Aussehen eines kleinen Kindes als Experiment über Empathie und der Dokumentar­film „Wood“über das dreckige Geschäft mit rumänische­m Holz, bei dem sich auch österreich­ische Unternehme­r bereichern.

Die Viennale läuft bis 1. November, der Abschlussf­ilm wird geruhsam herbstlich: „The Truffle Hunters“begleitet alte Männer, die mit ihren Hunden die Wälder Norditalie­ns durchstrei­fen, auf der Suche nach den begehrten weißen Trüffeln. Hier stimmen Ideal und Wirklichke­it dann endlich überein.

Festival: Viennale, 22. Oktober bis 1. November, Programm im Internet:

WWW.VIENNALE.AT

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BILD: SN/VIENNALE Der Eröffnungs­film „Miss Marx“gibt heuer ein Leitmotiv der Viennale vor.

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