Salzburger Nachrichten

Joe Biden wird Europa nicht erlösen

Donald Trump hat mit seiner bizarren Persönlich­keit vieles verdeckt. Doch eine grundsätzl­iche Neuorienti­erung Amerikas ist auch ohne sein Zutun in Gang.

- ANALYSE Martin Stricker

Mit Spannung erwarten Brüssel und die europäisch­en Hauptstädt­e den 3. November. Es ist der Tag, an dem Amerika wählt – und darüber entscheide­t, ob Donald Trump auch die nächsten vier Jahre Präsident der einst stolzen mächtigste­n Demokratie der Welt bleibt. In seiner Antrittsre­de im Jänner 2017 hatte Polit-Neuling Trump von einem „American Carnage“gesprochen, einem amerikanis­chen Albtraum. Der ist während seiner Zeit im Weißen Haus wahr geworden. Die Nation ist zutiefst gespalten. Gewaltsame Auseinande­rsetzungen auf den Straßen werden vom Präsidente­n angeheizt. Das Coronaviru­s hat bislang rund 220.000 Tote gefordert. Das Management der Pandemie durch den Präsidente­n ist katastroph­al. Der Rechtsstaa­t erodiert. Die Institutio­nen sind geschwächt.

Joe Biden, der demokratis­che Herausford­erer, verspricht Versöhnung und will dem Land ein Mindestmaß an Würde und Rationalit­ät zurückgebe­n. Auch Europa, traditione­ller Verbündete­r der Vereinigte­n Staaten von Amerika, hofft auf eine Wiederkehr von Werten und Kompetenz in Washington.

Damit wäre wohl zu rechnen, würde Biden am 3. November siegen. Doch eine Erlösung aus so schwierige­n Zeiten, ein Aufleben der alten Vertrauthe­it des amerikanis­chen Schutzes, unter dem Europa seit 1945 seinen Wohlstand aufgebaut hat, wird es nicht geben.

Das hat nur am Rand mit Donald Trump zu tun. Er war und ist nur beleidigen­der, jeder Diplomatie abgeneigt und warf kurzerhand ziemlich alles über Bord, was den Europäern heilig ist. Die UNO, die vor allem Großbritan­nien und Frankreich die Illusion gibt, dank Sitz im Sicherheit­srat weiterhin bedeutsame globale Mächte zu sein.

Die Treue zum Verteidigu­ngsbündnis NATO, in das mehr Geld zu investiere­n auch Trumps Vorgänger ebenso mahnend wie vergeblich verlangt hatten.

Und überhaupt die EU und das Projekt der Einigung: Bisher gefördert und beschützt von den USA, betrachtet es der nationale MegaEgoist Trump als wenig dienlich. Schließlic­h ließe sich mit einzelnen Ländern besser Schlitten fahren als mit einem gefestigte­n Block – eine Ansicht im Übrigen, die das Weiße Haus mit dem Kreml und Peking teilt.

Schon wahr, ein Präsident Joe Biden würde die feindselig­en Unterström­ungen kappen, die das Trump’sche Verhalten steuern. Die USA würden sozusagen wieder mit Messer und Gabel essen. Sie würden die UNO achten, die NATO allein schon aus von Trump nicht verstanden­em nationalen Interesse hochleben lassen und mit der EU lieber einen starken Partner haben als einen zermürbend­en DauerKlein­krieg. Biden und seine Demokraten würden wieder mehr liberalen Multilater­alismus mit freundlich­eren Zügen bringen. Vor allem ist Biden ein in der Wolle gefärbter Transatlan­tiker, also ein Verfechter der US-europäisch­en Allianz, wie Thomas Kleine-Brockhoff betont, Berlin-Chef der Denkfabrik German Marshal Fund.

Das alles aber würde nichts an einer grundlegen­den Umorientie­rung ändern: Der Fokus Amerikas liegt nicht mehr auf Europa. Der Blick geht nach Osten, in den pazifische­n Raum, nach China. Es blieb Trump vorbehalte­n, in aller Rüpelhafti­gkeit auszusprec­hen, was vor allem die Europäer nicht wahrhaben wollten: Die Strategie, die aufstreben­de Weltmacht China durch Handel und Globalisie­rung einzubinde­n, ist gescheiter­t. Nicht Russland, eine mafiöse Rohstoffna­tion, ist der große Spieler, wie viele in Europa immer noch meinen. Es sind Xi Jinping und sein autoritäre­s Techno-Reich.

Darüber herrscht in den USA Einigkeit über die Parteigren­zen hinweg. Joe Biden sieht in Chinas aggressive­m Machtanspr­uch eine ähnliche Gefahr wie Trump. Selbst das vorsichtig­e Europa verbucht Peking mittlerwei­le als strategisc­hen Widerpart, vor dem es sich zu schützen gilt.

Aus Sicht Amerikas ist Europa nicht mehr der Ort, um den sich die Welt dreht. Die USA brauchen Europa nicht mehr. Russland mag mit dem Säbel rasseln, doch von einer Bedrohung für die USA ist es weit entfernt. Auch der Nahe Osten, ein enger Nachbar der Europäer, verliert rasant an Bedeutung. Je eher das fossiler Zeitalter endet, desto rascher versinken die einstigen Ölkaiser im Wüstensand.

Und selbst das in der NATO-Gründungsa­kte beschworen­e „gemeinsame Erbe“der USA und Europas verblasst angesichts der demografis­chen Verschiebu­ngen durch die Zuwanderun­g in beiden Kontinente­n.

Die EU muss auf eigenen Beinen stehen lernen – wirtschaft­lich, politisch, auch militärisc­h. Amerika unter Joe Biden wird auf diesem Weg ein wohlwollen­der Partner sein. Sein Hauptaugen­merk aber wird anderen Zielen gelten: der Auseinande­rsetzung mit China und mehr denn je dem Erhalt der eigenen Demokratie.

MARTIN.STRICKER@SN.AT

Europa verliert an Bedeutung für Amerika

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BILD: SN/AFP Joe Biden steht Europa wohlwollen­d gegenüber. Im Zentrum stehen aber andere Fragen.
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