Gefühle verändern Extremsituationen
Ein SS-Offizier und eine junge Jüdin: Die Doku „Liebe war es nie“geht einer unglaublichen Beziehung auf den Grund.
WIEN. Zuerst verliebte er sich in ihre schöne Gesangsstimme, als sie ihm ein Geburtstagsständchen singen musste. Dann sorgte er für sie, als sie lungenkrank war, und rettete ihr so das Leben. Bis zu seinem Tod hat er sie nie vergessen, sie sei seine große Liebe gewesen, sagt er noch als alter Mann seiner erwachsenen Tochter: Der österreichische SSOffizier Franz Wunsch war Aufseher im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Er habe Männer und Frauen bei Selektionen brutal geschlagen, ein „Judenhasser“,
heißt es in Zeugenaussagen. Dann aber lernte der damals 20Jährige die slowakische Jüdin Helena Citron kennen und verliebte sich. Franz Wunsch rettete sie sowie deren ältere Schwester Rosa vor der Gaskammer, jedoch nicht die beiden Kinder der Schwester.
Die Geschichte von Helena Citron und ihrem SS-Verehrer klingt grauenvoll erfunden, ist aber tatsächlich so passiert. Was haben romantische Gefühle für eine Funktion in unmittelbarer Nähe der industriellen Vernichtung von Menschenleben? Mit dem Dokumentarfilm „Liebe war es nie“kommt nun eine kluge Aufarbeitung der zu Spekulationen reizenden Beziehung ins Kino: Der israelischen Regisseurin Maya Sarfaty ist es gelungen, Zeitzeuginnen und Mithäftlinge von Helena vor die Kamera zu holen; dazu montiert sie vielfältiges Material. Franz Wunsch kommt in einem Homevideo vor, in dem er seiner Tochter von Helena und der Zeit in Auschwitz-Birkenau erzählt, und in Fotos von dem Prozess, bei dem er 1972 in Wien vor Gericht stand – und bei dem Citron als Zeugin auftrat.
Die Geschichte von Helena und Franz war sogar Grundlage für ein Opernlibretto. Die Regisseurin der Doku hatte sie allerdings direkt von Helenas Familie gehört: „Miky Marin, Helenas Nichte, war meine erste Schauspiellehrerin“, schreibt Maya Sarfaty. „Als ich noch ein Kind war, vertraute mir Miky die Geschichte an, in der Hoffnung, dass ich diese eines Tages der Welt erzählen würde.“Viele Jahre hatte Sarfaty über die Umsetzung nachgedacht und den Versuch eines Spielfilmdrehbuchs unternommen. „Allerdings empfand ich mein Geschriebenes nie als eine angemessene Reflexion dieser Geschehnisse.“Nun ist die ideale Form gefunden.
Illustriert ist „Liebe war es nie“mit animierten Collagesequenzen: Ausgehend von Franz Wunschs Spleen, aus einem im KZ fotografierten Bild von Helena das Gesicht auszuschneiden und in andere Kontexte zu montieren, gestaltet Maya Sarfaty dreidimensionale Scherenschnittszenen. Und sie stellt ihre Interviewpartnerinnen und damit das Publikum vor Grundfragen: ob echte Liebe im Kontext der Menschenvernichtung überhaupt denkbar ist, was Gefühle in existenziellen Ausnahmesituationen bewirken können und wie sehr Liebe Nutzen und Projektion ist.