... in den USA jede Stimme zählte?
Die Amerikaner und ihr veraltetes Wahlrecht. Was wäre, wenn Kongress und Bundesstaaten das alte Wahlmänner-System abgeschafft hätten?
Am 3. November könnten die Amerikaner die erste Frau im Weißen Haus wiederwählen. Oder sich für einen Republikaner entscheiden. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass Hillary Clinton mit ihrem Amtsbonus die Wiederwahl als US-Präsidentin gelingen würde. Und Donald Trump? Der seltsame Ich-Darsteller mit den unflätigen Sprüchen, der 2016 um fast drei Millionen Stimmen weniger bekam als Clinton, wäre längst kein Thema mehr.
So könnte die Ausgangslage sein, wenn die Amerikaner ein modernes Verhältniswahlrecht hätten und Hillary Clinton 2016 mit ihrem eindeutigen Stimmenvorsprung ins Weiße Haus eingezogen wäre. Doch Präsident wurde Trump – dank des alten Wahlmänner-Systems. Und er könnte sogar die Wiederwahl schaffen.
Um zu verstehen, wie das angesichts Trumps miserabler Performance in den vergangenen vier
Jahren möglich ist, lohnt sich eine Rückblende ins Jahr 2016: Hillary Clinton ist im Wahlkampf – und erregt mit einer
Aussage Aufsehen: Sie nennt die
Anhänger Trumps einen „kläglichen“Haufen – jeder zweite von Trumps Anhängern sei
Rassist, Sexist, ein Schwulenfeind oder anderweitig von
Hass erfüllt. Daraufhin hagelt es Kritik an Clinton, die Präsidentschaftskandidatin muss sich öffentlich entschuldigen.
Der Hass, von dem Clinton damals sprach, war freilich eine Tatsache. Und er ist nicht weniger geworden, im
Gegenteil: Der Graben, der sich durch die amerikanische Gesellschaft zieht, ist noch tiefer als vor vier Jahren. Das liegt nicht nur daran, dass Trump nicht aufhört, seine Leute anzustacheln. Es liegt auch an einer weitverbreiteten, tief sitzenden Angst unter weißen, konservativen, protestantischen Wählern, die befürchten, in den nächsten Jahrzehnten zu einer Minderheit zu werden und die in Trump ihren letzten Rettungsanker sehen. Tatsächlich ist der Abschied vom „weißen Amerika“unausweichlich. In 20 bis 30 Jahren werden Latinos, Asiaten und Afroamerikaner die Mehrheit stellen. Und auf deren Stimmen hoffen die Demokraten, während die Republikaner Probleme bekommen dürften, wenn sie den Einwanderer-feindlichen Kurs Trumps nicht revidieren.
Schon heute liegt Joe Biden in den landesweiten Umfragen klar vorn. Dass Trump überhaupt eine Chance hat, verdankt er – wie eingangs erwähnt – dem veralteten amerikanischen Wahlrecht. Dieses hatte zu Zeiten der Gründerväter Ende des 18. Jahrhunderts, als die Demokratie noch ein Experiment war, durchaus Sinn. Die Wahl des Präsidenten durch die Wahlmänner in den einzelnen Bundesstaaten sorgte zum einen dafür, dass kleine Bundesstaaten bei der Wahl im Vergleich zu ihrer Bevölkerungszahl relativ mehr Gewicht bekamen. Zum anderen sollten die Wahlmänner verhindern, dass irgendein „Idiot“zum Präsidenten gewählt wird, wie der Amerika-Experte Michael Hochgeschwender von der Universität München betont.
Allerdings: Das Wahlmänner-System verzerrt den Wählerwillen. Denn es gilt in fast allen der 50 US-Bundesstaaten das Prinzip: „The winner takes it all.“Wer eine Mehrheit in einem Staat hat, bekommt sämtliche dort zu vergebenden Wahlmänner-Stimmen, die Stimmen des unterlegenen Kandidaten zählen nichts. Dazu kommt: Die Wahlmänner vertreten unterschiedlich viele Wähler. In Ohio kommen auf einen Wahlmann mehr als 600.000 Einwohner, in Wyoming weniger als 200.000. Die Folge all dessen: Wer von den meisten Amerikanern gewählt wird, ist nicht automatisch Wahlsieger.
Was aber wäre, wenn sich Demokraten und Republikaner im Kongress gemeinsam mit den Bundesstaaten einmal zu einer Verfassungsänderung durchgerungen hätten? Wenn etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Amtszeit des US-Präsidenten auf zwei Perioden beschränkt wurde, auch die Wahlmänner abgeschafft worden wären?
Dann wäre heute eben Hillary Clinton Präsidentin. Und auch einige von Trumps Vorgängern hätten die Wahlen verloren: George W. Bush zum Beispiel wurde im Jahr 2000 Präsident, obwohl sein Kontrahent Al Gore um rund 550.000 Stimmen mehr erhalten hatte. Und gut hundert Jahre davor war Benjamin Harrison ins Weiße Haus eingezogen, obwohl sein demokratischer Kontrahent, der zuvor amtierende Präsident Grover Cleveland, bei der „Popular Vote“um rund 100.000 Stimmen vor Harrison gelegen war.