Salzburger Nachrichten

... in den USA jede Stimme zählte?

Die Amerikaner und ihr veraltetes Wahlrecht. Was wäre, wenn Kongress und Bundesstaa­ten das alte Wahlmänner-System abgeschaff­t hätten?

- THOMAS HÖDLMOSER

Am 3. November könnten die Amerikaner die erste Frau im Weißen Haus wiederwähl­en. Oder sich für einen Republikan­er entscheide­n. Und es ist nicht unwahrsche­inlich, dass Hillary Clinton mit ihrem Amtsbonus die Wiederwahl als US-Präsidenti­n gelingen würde. Und Donald Trump? Der seltsame Ich-Darsteller mit den unflätigen Sprüchen, der 2016 um fast drei Millionen Stimmen weniger bekam als Clinton, wäre längst kein Thema mehr.

So könnte die Ausgangsla­ge sein, wenn die Amerikaner ein modernes Verhältnis­wahlrecht hätten und Hillary Clinton 2016 mit ihrem eindeutige­n Stimmenvor­sprung ins Weiße Haus eingezogen wäre. Doch Präsident wurde Trump – dank des alten Wahlmänner-Systems. Und er könnte sogar die Wiederwahl schaffen.

Um zu verstehen, wie das angesichts Trumps miserabler Performanc­e in den vergangene­n vier

Jahren möglich ist, lohnt sich eine Rückblende ins Jahr 2016: Hillary Clinton ist im Wahlkampf – und erregt mit einer

Aussage Aufsehen: Sie nennt die

Anhänger Trumps einen „kläglichen“Haufen – jeder zweite von Trumps Anhängern sei

Rassist, Sexist, ein Schwulenfe­ind oder anderweiti­g von

Hass erfüllt. Daraufhin hagelt es Kritik an Clinton, die Präsidents­chaftskand­idatin muss sich öffentlich entschuldi­gen.

Der Hass, von dem Clinton damals sprach, war freilich eine Tatsache. Und er ist nicht weniger geworden, im

Gegenteil: Der Graben, der sich durch die amerikanis­che Gesellscha­ft zieht, ist noch tiefer als vor vier Jahren. Das liegt nicht nur daran, dass Trump nicht aufhört, seine Leute anzustache­ln. Es liegt auch an einer weitverbre­iteten, tief sitzenden Angst unter weißen, konservati­ven, protestant­ischen Wählern, die befürchten, in den nächsten Jahrzehnte­n zu einer Minderheit zu werden und die in Trump ihren letzten Rettungsan­ker sehen. Tatsächlic­h ist der Abschied vom „weißen Amerika“unausweich­lich. In 20 bis 30 Jahren werden Latinos, Asiaten und Afroamerik­aner die Mehrheit stellen. Und auf deren Stimmen hoffen die Demokraten, während die Republikan­er Probleme bekommen dürften, wenn sie den Einwandere­r-feindliche­n Kurs Trumps nicht revidieren.

Schon heute liegt Joe Biden in den landesweit­en Umfragen klar vorn. Dass Trump überhaupt eine Chance hat, verdankt er – wie eingangs erwähnt – dem veralteten amerikanis­chen Wahlrecht. Dieses hatte zu Zeiten der Gründervät­er Ende des 18. Jahrhunder­ts, als die Demokratie noch ein Experiment war, durchaus Sinn. Die Wahl des Präsidente­n durch die Wahlmänner in den einzelnen Bundesstaa­ten sorgte zum einen dafür, dass kleine Bundesstaa­ten bei der Wahl im Vergleich zu ihrer Bevölkerun­gszahl relativ mehr Gewicht bekamen. Zum anderen sollten die Wahlmänner verhindern, dass irgendein „Idiot“zum Präsidente­n gewählt wird, wie der Amerika-Experte Michael Hochgeschw­ender von der Universitä­t München betont.

Allerdings: Das Wahlmänner-System verzerrt den Wählerwill­en. Denn es gilt in fast allen der 50 US-Bundesstaa­ten das Prinzip: „The winner takes it all.“Wer eine Mehrheit in einem Staat hat, bekommt sämtliche dort zu vergebende­n Wahlmänner-Stimmen, die Stimmen des unterlegen­en Kandidaten zählen nichts. Dazu kommt: Die Wahlmänner vertreten unterschie­dlich viele Wähler. In Ohio kommen auf einen Wahlmann mehr als 600.000 Einwohner, in Wyoming weniger als 200.000. Die Folge all dessen: Wer von den meisten Amerikaner­n gewählt wird, ist nicht automatisc­h Wahlsieger.

Was aber wäre, wenn sich Demokraten und Republikan­er im Kongress gemeinsam mit den Bundesstaa­ten einmal zu einer Verfassung­sänderung durchgerun­gen hätten? Wenn etwa nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Amtszeit des US-Präsidente­n auf zwei Perioden beschränkt wurde, auch die Wahlmänner abgeschaff­t worden wären?

Dann wäre heute eben Hillary Clinton Präsidenti­n. Und auch einige von Trumps Vorgängern hätten die Wahlen verloren: George W. Bush zum Beispiel wurde im Jahr 2000 Präsident, obwohl sein Kontrahent Al Gore um rund 550.000 Stimmen mehr erhalten hatte. Und gut hundert Jahre davor war Benjamin Harrison ins Weiße Haus eingezogen, obwohl sein demokratis­cher Kontrahent, der zuvor amtierende Präsident Grover Cleveland, bei der „Popular Vote“um rund 100.000 Stimmen vor Harrison gelegen war.

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BILD: SN/STOCKADOBE-GURCAN

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