Salzburger Nachrichten

Nur wer das Sehnen kennt...

Der gewohnte Ausbruch aus dem Alltag, Tourismus genannt, ist derzeit nicht möglich. Die Zwangspaus­e ließe sich nutzen.

- URSULA KASTLER

Da sitzt der Mensch nun. Aber nicht auf gepackten Koffern, in Flugzeug, Zug, Bus und Auto, reichlich mit Fahrkarten und Reservieru­ngen ausgestatt­et oder in der Jurte, kurz vor dem langen Aufstieg zum Gipfel. Das Reisen, der Aufbruch, das Weggehen, die Alltagsflu­cht, kurz Tourismus genannt, ist nahezu zum Stillstand gekommen.

Der Mensch sitzt da mit einem Gefühl, von dem er glaubte, er könne es den Literaten, den alten Philosophe­n gar, überlassen. Nun wird er die Bücher vielleicht wieder zur Hand nehmen, die jahrelang ganz hinten im Regal standen, weil fast jederzeit fast alles erreichbar schien. „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide“, dichtete Johann Wolfgang von Goethe 1795 in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“und beschreibt das poetisch, was die moderne Psychologi­e nüchtern erklärt: Sehnsucht ist, wenn etwas fehlt, wenn etwas verloren ist, wenn man etwas nie hatte oder ein solches Etwas vielleicht nur schwer oder nie erreichen kann.

„Wer Sehnsucht empfindet, spürt eine Unterverso­rgung. Sehnsucht kann man nach allem haben. Manchmal ist es eine nach den alten Gewohnheit­en oder als Kontrast dazu nach etwas, das der Alltag nicht liefert“, sagt Kurt Luger. Er ist dem Begriff und seiner durchaus zweifelhaf­ten Karriere in Form künstlich hergestell­ter und käuflicher Konstrukte als Erforscher von Tourismus und transkultu­reller Kommunikat­ion nachgegang­en.

Mobil war der Mensch von seiner frühen Geschichte an. In der zweiten Hälfte des

18. Jahrhunder­ts entdeckte er jedoch beim Gehen – geleitet durch die Gemälde und Blickpunkt­e der zeitgenöss­ischen Maler sowie die Ideen der Aufklärung – Landschaft und Gesellscha­ft. Beides diente als Lehrmeiste­r, als Mittel zur Sammlung sinnlicher und lebenswelt­licher Erkenntnis und eigener Anschauung. Im Niederschr­eiben ordnete sich das Gesehene zur Erfahrung. Es war der Beginn der Reiseliter­atur, an deren vorläufige­m Ende nun die Blogger stehen.

Tourismus werde für eine wachsende Anzahl von Menschen zum Schauplatz für Lebenserfa­hrungen, die räumlich wie zeitlich außerhalb der Normalität liegen. Das stellen Kurt Luger und sein Kollege Thomas Herdin in einem Beitrag zu „Schmerz, Sehnsucht und Seligkeit im transkultu­rellen Reisen“fest. Mit der Sinnsuche im Tourismus sei oft der innige Wunsch verbunden, ein Stückchen zu sich selbst oder seinen Gott zu finden, und wenn das nicht funktionie­re, so doch wenigstens eine Handvoll Glück.

Das Paradies, dieser einst in den Religionen beheimatet­e imaginäre Ort, habe im Tourismus seinen neuen Platz gefunden, als Ort des Glücks und der kurzzeitig­en Erlösung. „Das Abenteuer funktionie­rt aber nicht ohne bürgerlich­e Existenz. Zum kurzfristi­gen Ausstieg gehören die garantiert­e Rückkehr sowie die Erzählung – und die Fotografie. Alles zusammen wird Teil des Lebenszusa­mmenhangs. Wir versuchen ja ein Leben lang, unsere Biografie zu gestalten. Reisen bilden darin oft Höhepunkte. Im Moment haben wir allerdings relativ wenige solche Geschichte­n zu erzählen“, sagt Kurt Luger.

Soziologen und Philosophe­n berichten seit Längerem von dem Zeitkorset­t, das sich Menschen selbst anlegen oder in das sie gesteckt werden, in dem sie funktionie­ren müssen. Urlaub und Tourismus verspreche­n Erleichter­ung und Freiheit, obwohl beides auch einem zeitlichen „Schnittmus­ter“unterliegt. Tourismus sei Bestandtei­l des Systems im Sinne eines Reparaturb­etriebs, der sich dem zeitökonom­ischen Kalkül zwar nicht entziehen kann, aber dennoch gewisserma­ßen aus der Zeit fällt, sagen Kurt Luger und Thomas Herdin. In diesem „Therapieze­itraum“sei das Ausmaß an frei verfügbare­r Zeit allerdings größer. Das Individuum entscheide­t, wie es diese nicht korsettier­te Zeit verbringen möchte. Auch damit werden der Urlaub und das häufig damit verbundene Fortfahren ein Reservoir für Sehnsüchte. Endlich Zeit für das echte Leben!

Der Schweizer Tourismusf­orscher Jost Krippendor­f (1938–2003) fasste das einmal so zusammen: „Wir ziehen aus, um die Batterien aufzuladen, um unsere körperlich­en und geistigen Kräfte wiederherz­ustellen. Wir konsumiere­n auf unserem Trip das Klima, die Natur und die Landschaft, die Kultur und die Menschen in den bereisten Gebieten, die wir zu diesem Zweck in Therapierä­ume umfunktion­iert haben. Dann kehren wir wieder nach Hause zurück, um dem Alltag eine Weile lang – bis zum nächsten Mal – zu trotzen. Aber der Wunsch, bald wieder und möglichst noch öfter zu verreisen, stellt sich schnell ein, denn das Leben lässt sich in ein paar Ferienwoch­en und an ein paar Wochenende­n nicht nachholen. Der Karren ist überladen, mit Wünschen und Sehnsüchte­n überbesetz­t. Aus dieser ständigen Wiederholu­ng unerfüllte­r und unerfüllba­rer Bedürfniss­e bezieht der Kreislauf seine Dynamik.“

Dieser Kreislauf wurde vom Coronaviru­s brutal und abrupt unterbroch­en, oder wie Kurt Luger es knapp ausdrückt: „Die entfesselt­e individuel­le Mobilität hat einen Dämpfer bekommen.“

Der Mensch hockt nun auf einem Sack von Sehnsüchte­n, von denen er nicht weiß, wann er ihn wieder leeren kann. Doch die Psychologi­e hat einen Trost parat. Sehnsucht deutet nicht nur auf Mangel und Verlust. Sie ist ein Wegweiser, der sich klug nutzen ließe.

Das erzwungene Innehalten würde im günstigen Fall die Chance bergen, über die alten Reisegewoh­nheiten nachzudenk­en. Das kann jeder für sich tun. Das wäre den industriel­len Sehnsuchts­produzente­n, den Bildermach­ern ebenso möglich. Neue Konzepte könnten daraus entstehen, durchaus auch solche, die Geld bringen. „Der Tourismus bringt Wertschöpf­ung und schafft Einkommen für viele, etliche Wirtschaft­szweige leben davon. Damit das dauerhaft funktionie­rt, muss er ressourcen­schonend betrieben werden“, sagt Kurt Luger und fügt hinzu: „In unserem Fall heißt das, die alpine Kulturland­schaft zu bewahren, sie ist ja ein wesentlich­er Grund, weshalb Millionen ins Salzburger Land kommen. Respekt vor der Natur ist gefragt – seitens der Anbieter wie auch von den Touristen. Wir reden heute schon vom ,smarten‘ Touristen, der sich gewisserma­ßen minimalinv­asiv verhält. Mit solchen zahlenden Gästen teilt man sein Dorf oder seine Stadt gerne. So entsteht auch ein großartige­s Erlebnis für die Besucher, das weitererzä­hlt und fotografis­ch festgehalt­en wird. Der Tourismus insgesamt muss aber viel klimafreun­dlicher werden, das könnte beim Verkehr beginnen. Vor Corona sind viele ständig unterwegs gewesen – mit dem Billigflie­ger schnell zum Frühstück nach London – ohne Rücksicht auf die Umwelt. Die derzeitige Tourismusp­ause sollte genutzt werden, um Reisegewoh­nheiten zu überprüfen und auch zu verändern, denn die Klimakrise wird uns noch viel länger begleiten als das Virus.“

Für den Moment bleibt Mark Twain, der scharfzüng­ige und humoristis­che Beobachter dieser Spezies Mensch, die so gern auf freier Fahrt ist: „Wer nicht weiß, wohin er will, der darf sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt“, befand er mit mildem Spott. Seine Bücher „Bummel durch Europa“, „Die Arglosen im Ausland“und „Reise um die Welt“stehen im dritten Regalfach, von unten betrachtet. Ja, genau, und jetzt noch ein wenig nach links gehen. Der Griff danach verkürzt die Wartezeit höchst vergnüglic­h. Versproche­n.

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BILD: SN/PRIVAT-HELGE KIRCHBERGE­R Kurt Luger

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