Entkommen unerwünscht: Einbahnstraße zum Punsch
Lebkuchen gibt’s. Ist immerhin schon Ende Oktober. Weihnachten steht vor der Tür. Allerdings muss unter den gegebenen Umständen angenommen werden, dass sich die Tage bis Weihnachten heuer noch länger anfühlen als sonst. Der Winter naht, es wird finster und finsterer, und das Virus schleicht sich nicht. Da kann ein bisschen Tröstliches nicht schaden. „Das Christkind gibt es auch heuer“, so stand es da. Schön, dass in Salzburg, wo das Althergebrachte immer siegt, davon ausgegangen wird, dass gut eingeführte Riten passieren, auch wenn ungewiss ist, was sonst so auf uns zukommt. „Anders als in früheren Jahren wird es nicht mehr durch die Menge gehen, Lebkuchen verteilen oder für Selfies zur Verfügung stehen“, steht auch da über den Auftritt des Christkinds. Das mit den Selfies ist freilich ein harter Schlag. Wie sollte man ohne Selfie denn sonst beweisen, dass man am Christkindlmarkt war? Oder besser: dass man dort gewesen sein wird, wenn alles trotz allem durchgezogen wird. Darum werden Pläne gemacht, wie gerettet werden kann, was zu retten ist. So hört man es jetzt oft und öfter und es klingt so, wie es klingt bei Hochwasser oder Krieg. Retten, was zu retten ist: Rettung wird gern mit dem Festhalten an der Tradition verwechselt. Übersehen wird, dass nichts – außer ein Teil der Einnahme vielleicht – gerettet wird. Es wird Zugangskontrollen geben auf den Christkindlmärkten. Man wird fiebergescannt. Man kann beim Punschsaufen gar nicht aus, weil man in einem Einbahnsystem hingeschleust wird. Ein Besucherleitsystem wird es geben, damit sich vor den Standln nicht kaufwütige Massen drängen, falls die Massen überhaupt auftauchen.
Gut ausgedacht, die Pläne. Das wird eine unwiderstehliche Advent-Atmosphäre. Sicher! Währenddessen sitzt Lolinger, wie alle anderen Oberstufler, daheim. Sie hatte dieser Tage Geburtstag, den 16., der in vieler Hinsicht doch einen großen Schritt ins Erwachsensein bedeutet. Zum Beispiel darf sie jetzt wählen. Jetzt hat sie aber keine Wahl, weil es für Schülerinnen und Schüler keine politischen Pläne oder gar wirtschaftliche Interessen gibt, sondern nur den Zufall. Ich muss in die Schule, um ein paar Unterlagen zu holen, weil Lolinger auf unabsehbare Zeit ihr Leben, also die Schule, nicht zurückbekommen wird. Und als ich das Zeug holte, saß ihr Klassenvorstand allein im Klassenzimmer, alle Sesseln auf den Tischen, alle Tischfächer leer. Der Klassenvorstand sang mit allen anderen aus Lolingers Klasse „Happy Birthday“– per Videokonferenz. Es war das Allertraurigste, das ich seit Monaten gesehen habe. Ich trinke nicht, aber nun wünschte ich, es gäbe die gut organisierten Punschstände schon, um dieses dumpfe Gefühl bekämpfen zu können.