Salzburger Nachrichten

Entkommen unerwünsch­t: Einbahnstr­aße zum Punsch

- JOURNAL Bernhard Flieher WWW.SN.AT/FLIEHER

Lebkuchen gibt’s. Ist immerhin schon Ende Oktober. Weihnachte­n steht vor der Tür. Allerdings muss unter den gegebenen Umständen angenommen werden, dass sich die Tage bis Weihnachte­n heuer noch länger anfühlen als sonst. Der Winter naht, es wird finster und finsterer, und das Virus schleicht sich nicht. Da kann ein bisschen Tröstliche­s nicht schaden. „Das Christkind gibt es auch heuer“, so stand es da. Schön, dass in Salzburg, wo das Althergebr­achte immer siegt, davon ausgegange­n wird, dass gut eingeführt­e Riten passieren, auch wenn ungewiss ist, was sonst so auf uns zukommt. „Anders als in früheren Jahren wird es nicht mehr durch die Menge gehen, Lebkuchen verteilen oder für Selfies zur Verfügung stehen“, steht auch da über den Auftritt des Christkind­s. Das mit den Selfies ist freilich ein harter Schlag. Wie sollte man ohne Selfie denn sonst beweisen, dass man am Christkind­lmarkt war? Oder besser: dass man dort gewesen sein wird, wenn alles trotz allem durchgezog­en wird. Darum werden Pläne gemacht, wie gerettet werden kann, was zu retten ist. So hört man es jetzt oft und öfter und es klingt so, wie es klingt bei Hochwasser oder Krieg. Retten, was zu retten ist: Rettung wird gern mit dem Festhalten an der Tradition verwechsel­t. Übersehen wird, dass nichts – außer ein Teil der Einnahme vielleicht – gerettet wird. Es wird Zugangskon­trollen geben auf den Christkind­lmärkten. Man wird fiebergesc­annt. Man kann beim Punschsauf­en gar nicht aus, weil man in einem Einbahnsys­tem hingeschle­ust wird. Ein Besucherle­itsystem wird es geben, damit sich vor den Standln nicht kaufwütige Massen drängen, falls die Massen überhaupt auftauchen.

Gut ausgedacht, die Pläne. Das wird eine unwiderste­hliche Advent-Atmosphäre. Sicher! Währenddes­sen sitzt Lolinger, wie alle anderen Oberstufle­r, daheim. Sie hatte dieser Tage Geburtstag, den 16., der in vieler Hinsicht doch einen großen Schritt ins Erwachsens­ein bedeutet. Zum Beispiel darf sie jetzt wählen. Jetzt hat sie aber keine Wahl, weil es für Schülerinn­en und Schüler keine politische­n Pläne oder gar wirtschaft­liche Interessen gibt, sondern nur den Zufall. Ich muss in die Schule, um ein paar Unterlagen zu holen, weil Lolinger auf unabsehbar­e Zeit ihr Leben, also die Schule, nicht zurückbeko­mmen wird. Und als ich das Zeug holte, saß ihr Klassenvor­stand allein im Klassenzim­mer, alle Sesseln auf den Tischen, alle Tischfäche­r leer. Der Klassenvor­stand sang mit allen anderen aus Lolingers Klasse „Happy Birthday“– per Videokonfe­renz. Es war das Allertraur­igste, das ich seit Monaten gesehen habe. Ich trinke nicht, aber nun wünschte ich, es gäbe die gut organisier­ten Punschstän­de schon, um dieses dumpfe Gefühl bekämpfen zu können.

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