„Es geht sich hinten und vorn nicht mehr aus“
Was es in Österreich heißt, in Coronazeiten armutsgefährdet zu sein: Die SN waren bei einer Essensausgabe der Caritas dabei.
Gerti hat Glück. Sie steht mit ihrer Einkaufstasche im vorderen Drittel der Schlange, die sich vor der Pfarre Gartenstadt in Wien-Floridsdorf gebildet hat. Dafür war sie auch schon vor einer Stunde da. Außerdem scheint die Sonne. „Bei uns geht es sich halt hinten und vorn nicht mehr aus“, sagt sie und rückt einen Meter auf. Ihr Mann hat in der Coronakrise seine Arbeit verloren. Davor hat er ganz gut verdient. Zumindest deutlich mehr, als er jetzt an Arbeitslosengeld bekommt. Sie selbst ist in Karenz, kümmert sich um ihre beiden Kinder. Gerti wartet auf die Zuteilung eines Lebensmittelpakets durch die Caritas. Nudeln, Obst, Gemüse, Brot.
Die Schlangen bei den 14 Essensausgaben der Caritas in Wien sind länger geworden. Weil man nur noch dort verteilt, wo genug Platz zum Abstandhalten ist. Doch vor allem, weil es mehr Menschen gibt, die sich einen Einkauf im Supermarkt nicht mehr leisten können. Bis Ende September verzeichnete die Caritas 30.000 Erstkontakte in den Sozialberatungsstellen. Der Anstieg gegenüber dem Vorjahr ist teilweise dramatisch: 41 Prozent in Niederösterreich, 37 Prozent in der Steiermark. In Wien sind es lediglich sieben Prozent. „Aber auch nur deshalb, weil wir mit der Bearbeitung der Fälle nicht nachkommen“, verrät ein Caritas-Mitarbeiter.
Die aktuelle Armutsgefährdungsschwelle beträgt laut Armutskonferenz 1286 Euro monatlich für einen Einpersonenhaushalt. Der Wert erhöht sich um den Faktor 0,5 pro weitere erwachsene Person im
Haushalt und um den Faktor 0,3 pro Kind (unter 14 Jahre) im Haushalt. Für Gerti, ihren Mann und die beiden Kinder hieße das: 2700 Euro monatlich. Doch das ist ein Betrag, von dem die vierköpfige Familie nur träumen kann. Wie viel ihnen genau zur Verfügung steht, will Gerti nicht sagen. Es ist ihr schlicht zu unangenehm.
Knapp 1,2 Millionen Österreicher gelten als armutsgefährdet. Das sind 13,3 Prozent der Bevölkerung. 231.000 davon sind Kinder. Von den aktuell 409.000 Arbeitslosen sind jedoch 41 Prozent armutsgefährdet. „Unerträglich für ein wohlhabendes Land wie Österreich“, konstatiert Caritas-Generalsekretärin Anna Parr.
Ortswechsel nach Krems. Dort betreibt die Caritas einen Sozialmarkt und mit „Carla“den größten Secondhandladen Niederösterreichs. Dort hören die Mitarbeiter seit einigen Monaten einen Satz besonders oft: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal hierherkommen muss.“Das alles dominierende Gefühl sei Scham. Monika Steiner, Leiterin von Carla, sagt: „Es kommt jetzt anderes Publikum ins Haus. Vor allem mehr Familien mit Kindern.“Jacken, Hosen, Schuhe, Rucksäcke kosten nicht mehr als drei, vier Euro. Schlittschuhe gibt es ab 3,50 Euro, Ski um 25 Euro.
Zurück in Wien. Gerti ist gleich an der Reihe. Sie sagt, sie müsse ständig Entscheidungen treffen. Die hätten nichts damit zu tun, ob man den Kindern Laptops kauft, damit sie im Fall von coronabedingtem Heimunterricht nicht völlig den Anschluss verlieren. Eher damit, ob man die Miete später zahlt oder auf die Stromrechnung „vergisst“. Bald kommen Tage und Nächte, wo es nicht egal sein wird, ob der Heizkörper im Kinderzimmer lauwarm oder eiskalt ist. Und es soll, wenn möglich, nicht drei Tage hintereinander dasselbe Essen am Tisch stehen.
Die Schlange vor der Pfarre Gartenstadt hat sich aufgelöst. Gerti ist am Heimweg. Kochen und bei den Hausübungen helfen. Sie hat auch zwei Flaschen Saft ergattert. Und Mannerschnitten.
„Corona hat die Armut in die Mitte der Gesellschaft gerückt“, fasst Caritas-Präsident Michael Landau zusammen. Er fordert von der Regierung umfassende Maßnahmen, um Arbeitslosigkeit und Armut zu bekämpfen. Gerti ist inzwischen in einem der Gemeindebauten verschwunden. Sie heißt übrigens gar nicht Gerti. Ihren richtigen Namen in der Zeitung lesen, das wollte sie auf gar keinen Fall.
„Kinderarmut in Österreich unerträglich.“
Anna Parr, Caritas