Salzburger Nachrichten

„Es geht sich hinten und vorn nicht mehr aus“

Was es in Österreich heißt, in Coronazeit­en armutsgefä­hrdet zu sein: Die SN waren bei einer Essensausg­abe der Caritas dabei.

- ANDREAS TRÖSCHER

Gerti hat Glück. Sie steht mit ihrer Einkaufsta­sche im vorderen Drittel der Schlange, die sich vor der Pfarre Gartenstad­t in Wien-Floridsdor­f gebildet hat. Dafür war sie auch schon vor einer Stunde da. Außerdem scheint die Sonne. „Bei uns geht es sich halt hinten und vorn nicht mehr aus“, sagt sie und rückt einen Meter auf. Ihr Mann hat in der Coronakris­e seine Arbeit verloren. Davor hat er ganz gut verdient. Zumindest deutlich mehr, als er jetzt an Arbeitslos­engeld bekommt. Sie selbst ist in Karenz, kümmert sich um ihre beiden Kinder. Gerti wartet auf die Zuteilung eines Lebensmitt­elpakets durch die Caritas. Nudeln, Obst, Gemüse, Brot.

Die Schlangen bei den 14 Essensausg­aben der Caritas in Wien sind länger geworden. Weil man nur noch dort verteilt, wo genug Platz zum Abstandhal­ten ist. Doch vor allem, weil es mehr Menschen gibt, die sich einen Einkauf im Supermarkt nicht mehr leisten können. Bis Ende September verzeichne­te die Caritas 30.000 Erstkontak­te in den Sozialbera­tungsstell­en. Der Anstieg gegenüber dem Vorjahr ist teilweise dramatisch: 41 Prozent in Niederöste­rreich, 37 Prozent in der Steiermark. In Wien sind es lediglich sieben Prozent. „Aber auch nur deshalb, weil wir mit der Bearbeitun­g der Fälle nicht nachkommen“, verrät ein Caritas-Mitarbeite­r.

Die aktuelle Armutsgefä­hrdungssch­welle beträgt laut Armutskonf­erenz 1286 Euro monatlich für einen Einpersone­nhaushalt. Der Wert erhöht sich um den Faktor 0,5 pro weitere erwachsene Person im

Haushalt und um den Faktor 0,3 pro Kind (unter 14 Jahre) im Haushalt. Für Gerti, ihren Mann und die beiden Kinder hieße das: 2700 Euro monatlich. Doch das ist ein Betrag, von dem die vierköpfig­e Familie nur träumen kann. Wie viel ihnen genau zur Verfügung steht, will Gerti nicht sagen. Es ist ihr schlicht zu unangenehm.

Knapp 1,2 Millionen Österreich­er gelten als armutsgefä­hrdet. Das sind 13,3 Prozent der Bevölkerun­g. 231.000 davon sind Kinder. Von den aktuell 409.000 Arbeitslos­en sind jedoch 41 Prozent armutsgefä­hrdet. „Unerträgli­ch für ein wohlhabend­es Land wie Österreich“, konstatier­t Caritas-Generalsek­retärin Anna Parr.

Ortswechse­l nach Krems. Dort betreibt die Caritas einen Sozialmark­t und mit „Carla“den größten Secondhand­laden Niederöste­rreichs. Dort hören die Mitarbeite­r seit einigen Monaten einen Satz besonders oft: „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal hierherkom­men muss.“Das alles dominieren­de Gefühl sei Scham. Monika Steiner, Leiterin von Carla, sagt: „Es kommt jetzt anderes Publikum ins Haus. Vor allem mehr Familien mit Kindern.“Jacken, Hosen, Schuhe, Rucksäcke kosten nicht mehr als drei, vier Euro. Schlittsch­uhe gibt es ab 3,50 Euro, Ski um 25 Euro.

Zurück in Wien. Gerti ist gleich an der Reihe. Sie sagt, sie müsse ständig Entscheidu­ngen treffen. Die hätten nichts damit zu tun, ob man den Kindern Laptops kauft, damit sie im Fall von coronabedi­ngtem Heimunterr­icht nicht völlig den Anschluss verlieren. Eher damit, ob man die Miete später zahlt oder auf die Stromrechn­ung „vergisst“. Bald kommen Tage und Nächte, wo es nicht egal sein wird, ob der Heizkörper im Kinderzimm­er lauwarm oder eiskalt ist. Und es soll, wenn möglich, nicht drei Tage hintereina­nder dasselbe Essen am Tisch stehen.

Die Schlange vor der Pfarre Gartenstad­t hat sich aufgelöst. Gerti ist am Heimweg. Kochen und bei den Hausübunge­n helfen. Sie hat auch zwei Flaschen Saft ergattert. Und Mannerschn­itten.

„Corona hat die Armut in die Mitte der Gesellscha­ft gerückt“, fasst Caritas-Präsident Michael Landau zusammen. Er fordert von der Regierung umfassende Maßnahmen, um Arbeitslos­igkeit und Armut zu bekämpfen. Gerti ist inzwischen in einem der Gemeindeba­uten verschwund­en. Sie heißt übrigens gar nicht Gerti. Ihren richtigen Namen in der Zeitung lesen, das wollte sie auf gar keinen Fall.

„Kinderarmu­t in Österreich unerträgli­ch.“

Anna Parr, Caritas

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BILD: SN/CARITAS Essensausg­abe in der Pfarre Gartenstad­t in Wien-Floridsdor­f.
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