Die Vermessung der Wirtschaft
Wie kommen Ökonomen auf ihre richtigen oder falschen Schlüsse über die Wirtschaftslage? Über Klopapier-Berge, Unterhosen-Index und Echtzeit-Indikatoren.
Wie kommen Ökonomen zu Schlüssen über die Wirtschaftslage? Stichwort: UnterhosenIndex.
WIEN. Die Deutschen hamstern und horten wieder Toilettenpapier. Das hat das Statistische Bundesamt vorige Woche festgestellt. Mitte Oktober wurde in sieben Tagen fast doppelt so viel gekauft wie im Durchschnitt der Monate vor Ausbruch der Coronakrise. Für Statistiker ist das ein Zeichen, dass sich die Menschen wieder vor einem Lockdown fürchten.
Wirtschaftsforscher vertrauen nicht nur auf stapelweisen Kauf von WC-Papier. In ihren Analysen und Prognosen setzten sie aber ebenfalls auf weniger augenscheinliche Zeichen. Der ehemalige US-Notenbankchef Alan Greenspan prägte etwa den „Unterhosen-Index“: Sinkt der Absatz von Männerunterhosen, geht es ökonomisch bergab, denn in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten würden Männer hier sparen. „Das Allerletzte, was du kaufen musst, sind Unterhosen. Männer tragen ihre Unterhosen, bis sie auseinanderfallen“, erklärte Greenspan 2007 in einem Interview. Ähnlich funktionierte sein Hemden-Index: Dazu sammelte er akribisch Daten von Wäschereien, denn wenn die Zeiten schlechter werden, waschen Männer ihre Hemden wieder zu Hause.
Rocksaum-Theorie
Nicht alle Thesen halten einer Überprüfung stand: Boomt die Wirtschaft, werden die Röcke kürzer. Läuft es schlecht, ist es auch mit den Miniröcken vorbei, besagte die „Rocksaum“-Theorie des US-Ökonomen George Taylor aus dem Jahr 1926. Die Niederländer Marjolein van Baardwijk und Philip Hans Franses haben sie genau analysiert. Ihr Ergebnis: Rocklänge und Konjunktur korrelieren tatsächlich. „Aber der Rocksaum beeinflusst nicht die Wirtschaft, es ist umgekehrt“, sagt Philip Hans Franses von der Erasmus School of Economics in Rotterdam zu den SN – und es dauert. Drei Jahre nach einer Krise sind die Röcke länger.
Geht es der Wirtschaft wieder besser, werden sie kürzer. Für die Studie wurden Daten über die Rocklängen bis zurück in die 1920er-Jahre erhoben.
Wichtiger für Ökonomen als die Rückschau ist die Feststellung des Ist-Zustands, denn darauf basieren ihre Prognosen. „Viele statistische Parameter kommen erst mit eineinhalbmonatiger Verspätung“, sagt Franses. Er orientiert sich deshalb auch an der Zahl der verkauften Minivans oder Daten zur Leiharbeit. „Wenn es kleinen Unternehmen gut geht, kaufen sie neue Transporter“, sagt er. Und: „Springt die Wirtschaft an, werden erst einmal Leiharbeiter beschäftigt. Sie sind die Ersten, die wieder gehen müssen, wenn es schlechter läuft.“
Als besonders guter Indikator für die Wirtschaftsentwicklung gilt spätestens seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie der Stromverbrauch.
„Man sieht, was produziert wird, und bereinigt um Wochenenden und Feiertage ergibt das einen Trend, der sehr stark mit der Wirtschaft korreliert“, sagt Franz Schellhorn von der Denkfabrik Agenda Austria. Für eine tragfähige Prognose seien verbrauchte Kilowattstunden allein zu wenig, in Kombination mit Nah- und Lkw-Verkehrszahlen, Kundenfrequenz im Handel und Restaurantbesuchen ergebe sich aber ein Bild. Die Digitalisierung sei dabei sehr hilfreich.
Container-Index
Die Coronakrise hat überdeutlich gemacht, dass die Daten, auf die sich die Ökonomen bisher gestützt haben, etwa zum Außenhandel, zu spät vorliegen. In den vergangenen Monaten wurden daher Alternativen für schnellere Einschätzungen gesucht. „Es wurden immer mehr kurzfristigere Indikatoren entwickelt“, erklärt Klaus Weyerstraß vom Institut für Höhere Studien (IHS). Dessen neuer „Economic High-Frequency Monitor“zeigt die Schienengüterverkehrsleistung, die Arbeitslosenquote und eben den Stromverbrauch. „Sind Industriebereiche stillgelegt, sinkt der Stromkonsum sehr stark“, sagt Weyerstraß. Im internationalen Handel gibt es seit 35 Jahren einen anerkannten Frühindikator: den täglich um 13 Uhr in London veröffentlichten Baltic Dry Index (BDI). Er bildet Preise für die Verschiffung von Frachtgut wie Kohle, Eisenerz und Getreide auf den wichtigsten Frachtrouten ab. Die Logik dahinter: Je größer die Nachfrage nach solchen Gütern, desto mehr wird verschifft und desto höher ist der Preis. Geht der BDI hinauf, signalisiert das einen Anstieg des globalen Handels – und Monate später der Wirtschaft insgesamt. Den aktuellen Zustand des Welthandels bilden Container-Indizes ab, die die Tonnage auf Containerschiffen messen, die eher Konsum- und Industrieprodukte transportieren.
Viele Wirtschaftsforscher lagen vor allem bei Ausbruch der Coronakrise mit ihren Prognosen daneben. Anders als bei früheren Krisen seien diesmal alle Bereiche außer geschützten Sektoren betroffen, sagt Schellhorn. Niemand wisse, wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt und Milliarden Menschen reagieren. „Erstmals seit Langem sind Angebot und Nachfrage zugleich weggebrochen. Das hab ich so noch nie erlebt.“Die neue Herausforderung hat die Wirtschaftsforscher
kreativ gemacht. Die Nationalbank greift für ihre zweiwöchentliche Einschätzung der Wirtschaftslage nun auch auf Daten von Zahlungsdienstleistern zurück, die abbilden, wo wie viel Geld ausgegeben wird. Auch Informationen zu ausländischen Touristen lassen sich so sammeln. Diese stehen rascher zur Verfügung als die immer erst einen Monat später veröffentlichten Nächtigungsstatistiken.
Google-Suche
Das IHS zieht auch den „Striktheitsindikator“der Oxford University für seine Einschätzungen heran. Der misst, wie streng die PandemieEindämmungsmaßnahmen in verschiedenen Ländern sind. Zurückgegriffen werde neuerdings auch auf Mobilitätsdaten von Google oder auf Daten, welche Wörter in die Suchleiste getippt werden. „Man kann etwa sehen, wie sich die Suchanfragen im Tourismus, etwa zu Flugreisen, verändert haben“, so Weyerstraß. Was daraus abgelesen wird, ist Sache der Ökonomen und nicht zuletzt ihres Bauchgefühls. „Wir müssen auch überlegen, was die Modelle nicht wissen können.“
Dass der Wohlstand eines Landes künftig an anderen Parametern abgelesen wird als an der Wirtschaftsleistung, glaubt Schellhorn nicht. „Man will schon lang weg vom BIP (Bruttoinlandsprodukt, Anm.), aber es gibt bisher keine bessere Messung.“Seine Hoffnung: Dass die Krise dazu beiträgt, „dass man wieder erkennt, dass Wachstum nicht das Schlechteste und eine Welt ohne Wachstum kein schöner Anblick ist und verheerend für viele Haushalte“. Den Hang zum KlopapierHorten in der Krise verstehen die Ökonomen übrigens nicht. Eine Erklärung ist die psychologische Komponente beim Einkaufen: Wenn andere Klopapier nehmen, habe ich vielleicht etwas verpasst.