Große Leere in der Oper
Konzertante Aufführungen, Kammerorchester und kaum Besucher – mehr ist im Coronaherbst an vielen Opernhäusern nicht möglich. Raubt die Pandemie dem Gesamtkunstwerk seinen Reiz?
Stellen Sie sich vor, es ist World Opera Day – und keiner geht hin. Am Sonntag hätte das Gesamtkunstwerk Oper in all seinen Facetten weltweit erstrahlen und funkeln sollen. Just einen Tag davor gab die Mailänder Scala bekannt, aufgrund steigender Infektionszahlen in der Lombardei den Betrieb für einen Monat auszusetzen. Die Metropolitan Opera in New York hatte ihre Wiedereröffnung bereits zuvor auf Ende September 2021 verschoben. Die Coronapandemie legt die Zerbrechlichkeit der globalen Kunstform Oper offen.
Internationale Gastsänger reichern die Ensembles an und sammeln ähnlich viele Flugbonusmeilen wie Regiestars. Am Royal Opera House in London erhielten zumindest zwei große Regisseurinnen neue Aufträge: Katie Mitchell und Deborah Warner steuerten Beiträge für das erste Live-Opernerlebnis seit Ende März bei, das am Wochenende als Doppelabend zu sehen war. Gezeigt wurden Bearbeitungen opernferner Vokalwerke und zwei spärlich besetzte Einakter von Komponisten unserer Zeit – große Oper fühlt (und hört) sich anders an. Ansonsten müssen Opernliebhaber an der Themse auf StreamKonserven zurückgreifen – oder Ende November konzertante Aufführungen von „Ariodante“oder „Falstaff“besuchen.
Auch in anderen Metropolen wird auf Behelfslösungen zurückgegriffen. In Paris wird Richard Wagners „Ring des Nibelungen“konzertant gegeben – Calixto Bieitos Neuinszenierung der Tetralogie wurde verschoben –, dafür in bester Bayreuth-Manier binnen sechs Tagen.
Viele deutsche Opernhäuser spielen wegen Abstandsregelungen zwischen Musikern kammermusikalische Fassungen. „Das klang eher nach Kaffeehaus als nach Verismus“, berichtete BR-Klassik in seiner Onlineausgabe über die ausgedünnte Stuttgarter „Cavalleria rusticana“. Das Aalto-Musiktheater Essen garniert orchestrale Reduktion mit Werkeindampfung: „Tristan XS“heißt die 105-minütige Kammerorchesterfassung
von Wagners Musikdrama. In Klagenfurt wiederum wurde Händels „Alcina“am Freitag von einem Streichquintett und einer Cembalistin gestemmt. Grund war ein Coronafall im Orchester des Kärntner Landestheaters. Am Tiroler Landestheater geht der „Freischütz“seit rund einer Woche ohne Chor über die Bühne, nachdem mehrere Chormitglieder positiv getestet worden sind.
In Salzburg flackerte einen Festspielsommer lang ein Licht der Hoffnung: Die Neuproduktionen von „Elektra“und „Così fan tutte“zeigten die Möglichkeiten der Kunstform auf, die wie keine andere verschiedene Künste verschmelzen lässt. Schnell folgte Ernüchterung: Die Osterfestspiele Salzburg gaben Anfang Oktober bekannt, 2021 „Turandot“mit Anna Netrebko nur konzertant aufzuführen.
Auch Charles Gounods „Faust“kommt ab kommendem Samstag im Salzburger Landestheater zu konzertanter Aufführung. Operndirektorin Katrin König findet, konzertante Oper habe ihre Berechtigung: „Das Konzertante weckt die Kreativität im Zuhörer. Es ist eine Abwechslung.“Und die forderten die Abonnenten ein. Zudem passe das Werk ideal zum Landestheater-Ensemble. Der Verzicht auf szenische Oper habe auch dispositionelle Gründe, räumt sie ein. „Aber es war eine bewusste künstlerische Entscheidung – für eine konzertante Aufführung und gegen eine große Opernproduktion im Festspielbezirk, die auch ein finanzielles Risiko dargestellt hätte.“
Als „Spagat“bezeichnet Dirigent Leslie Suganandarajah die Salzburger Fassung: „Bei den drei Stunden Spielzeit dieser Oper müssten wir sonst eine Pause machen. Wir haben das Werk um eine Stunde gekürzt.“Der rote Faden des Werks sei erhalten geblieben, sagt Katrin König.
Die Operndirektorin ist sich der privilegierten Position der Opern- und Theaterhäuser in Österreich bewusst. In München sind seit Dienstag nur noch 50 statt möglicher 2100 Besucher in die Bayerische Staatsoper zugelassen. Katrin König übt an der „Bevormundung der Künstler durch die Politik“Kritik: „Es ist schmerzlich zu sehen, dass die Ausübung von Kunst in anderen Ländern so rigoros unterbunden wird.“
„Konzertante Oper weckt die Kreativität im Zuhörer.“
Katrin König, Sbg. Landestheater