Gar nichts von dieser Welt
Bei der Tankstelle, die auch während der Ausgangsperre versorgt, gibt es neuerdings Madeleines. Ein muschelförmiges Kleingebäck, gemacht aus Sandmasse, ist das. Ich könnt’ das essen bis zum Schlechtwerden. Madeleines liegen in ihrer traditionellen Heimat Frankreich in der Vitrine von Bäckereien. An der Tankstelle tauchen die Madeleines in Plastikverpackung auf. Sie tauchen aber auch in der Weltliteratur auf.
Marcel Proust erinnerte sich beim Geschmack einer in Tee getunkten Madeleine an seine Kindheit – danach zog er sich von der Welt zurück und begann zu schreiben, wodurch epochale Literatur, erhaben über Raum und Zeit, entstand. Der Geschmack öffnet für Proust Gedankenketten und lässt ihn etwa in seinen Heimatort Combray schweifen. Die Erinnerung mag trügen, aber sie ist immer eine gute Sache. Die Kindheit hat es nämlich so gut, weil man sich in ihr nicht mit der Gegenwart aufhalten muss. Die Kindheit, wenn sie halbwegs erträglich verlaufen ist, ist unendlich weit weg von der Welt, wie wir sie in späteren Jahren live erleben. So etwas erspart sehr viel Ärger. Zur Kindheit gehört als zentraler, nörgelnder Satz: „Was machen wir jetzt noch?“Darauf gab es Antworten und also eine Zukunft, in der diese Antworten auf ihren Bestand getestet werden konnten. Im Lauf der Jahre werden dann aus dieser Kind-Frage andere Fragen. Die beliebtesten sind „Was soll das jetzt bitte?“und „Was bringt das?“und „Wie kann so was passieren?“Während es in der Kindheit eine Antwort für die Frage nach der Zukunft gab, ist die Zukunft mit diesen Fragen abgeschafft. Hat ja eh keiner Zeit für Morgen. Es prasselt einfach alles viel zu schnell in immer kürzeren Abständen daher. Gestern noch Corona. Heute schon Terror. Und als Mischform dieser beiden ohnehin verstörenden Begleiter der Gegenwart auch noch der US-Wahlkampf. Bei dieser Geschwindigkeit hält die Gegenwart kaum noch mit, weil alles so schnell gewöhnlich und ausgetauscht wird. Und so verschieben sich die Gewohnheiten und man kommt kaum noch nach. Da schadet ein bisserl Schmökern und Kindheitserinnerung bei Proust nicht. Der Roman heißt „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Ich hatte den ersten der sieben Bände dabei beim letzten Cafébesuch vor dem Herbst-Lockdown, schlug ihn auf und hörte am Nebentisch den Ober sagen: „Ich bring’ Ihnen gleich den Coronazettel zum Ausfüllen.“– Und der Gast antwortet: „Ah ja genau, aber weit dringender bräuchte ich wie damals einen Kaffee und einen Aschenbecher.“Ein paar Stunden später waren dann Coronazettel, Kaffee und Aschenbecher aber auch schon wieder von gestern und nicht mehr von dieser Welt.