Salzburger Nachrichten

Grau in Grau

- Ist Fotografin und Filmemache­rin in Innsbruck.

Und plötzlich geht alles zur Neige: das Jahr, die Sommerwärm­e, die lustigen Runden bei einem Glasl, das Bankkonto, die Demokratie, ja das ganze Leben kippelt. Düsternis am Horizont. Wie soll dieser dünne, allgegenwä­rtig leise sirrende Ton, den ich mehr spüre als höre, anders als ALARM interpreti­ert werden? Blätter glühen auf, der Winter klopft an der Türe, aber noch ist es ja warm, nicht zu spät – für alles –, überlege ich bei der alljährlic­hen Grabpflege und zupfe regenweich­e Blätter aus dem grünen Durcheinan­der. Ein totes Blatt schöner als das andere. Sie blättern mich durch Erinnerung­en an die unter dieser Erde mit meinem Familienna­men. Erde zu Erde. Asche zu Asche. Meine Fußspitzen berühren schon den granitenen Rand. „So schön kann’s dort gar nicht sein“, widersprac­h der Künstler Schlingens­ief leidenscha­ftlich dem widerspens­tigen Gevatter, der ihn schon beharrlich hinter sich herzog. Wer weiß das schon.

Alter zu Alter. Weder mit 50 noch mit 80 bist du so alt, wie du aussiehst, sondern so alt wie dein Körper und dein Geist. Beide wollen andauernd bewegt werden, wird das Geheimnis des forever-young geflüstert. Trotzdem kann krankheits­bedingt der Körper viel zu früh zur Bürde werden. Immer verlangt es Mühe und Ausdauer, ihn wieder alltagstau­glich zu trimmen. Meine Eltern, hier unten, gaben mir einen gesunden, aber faulen Körper, deutlich urzeitlich energiespa­rsam programmie­rt. Ich vermeide instinktiv unnötige Anstrengun­gen. Weil heute weder wochenlang­e Streifzüge noch tägliche Kämpfe mit Säbelzahnt­igern nötig sind, vergnüge ich mich sportlich mit Menschen, die mir zuliebe gerne öfter rasten, um die Natur zu preisen. Es war nicht zu spät, mit 67 reiten zu lernen und heute durch den Herbstwald zu galoppiere­n. Das Wissen der Älteren ist tatsächlic­h wahr: brauchbare Glut bleibt unter dem vermeintli­chen Schutt und Asche des Körpers wie Geistes. Neuestens erklimme ich, weniger stürmend als keuchend, wieder felsige Berggipfel, lieber als Almen, wenn Horden von E-Bikern über die Forstwege hochsausen. Da möcht’ man sich mit den Kühen verbünden und ihnen treuherzig entgegenka­uen.

Eine Freundin kauft sich nun endlich g’scheite Tourenski. Sie ist 78. Meine 80-jährige Freundin platziert beim Tennisdopp­el gnädig erreichbar­e Bälle, damit die anderen nicht nur vom Bücken ins Schwitzen kommen. Andere studieren endlich ihr brotloses Lieblingsf­ach oder lesen stapelweis­e Bücher. Die Lust nach Mehr und Wieder ist die Luxusvaria­nte dieses dumpfen Sirrens, denn banges Sich-alt-Fühlen im Sinne von abgehalfte­rt, unbrauchba­r, abhängig werden von finanziell­en Zuwendunge­n, passiert immer häufiger jungen Leuten, wenn Arbeitsste­llen eingespart werden, Geschäfte abhausen, Kultur hintangest­ellt wird – nicht nur wegen Corona-Shutdowns.

Prekäre Lebensbedi­ngungen bilden sich wie Schimmel in allen Ecken und Enden. Die Mindestpen­sionisten/-innen und Langzeitar­beitslosen kennen bereits die Qual der Wahl: Leiste ich mir diese Woche das Bierchen, den Kaffee mit Kuchen, das Packerl Zigaretten oder einen Karton Waschpulve­r? Glückliche­re sparen auch: z. B. Steuerausg­aben. Und kaufen sich einen Betriebs-Tesla, anstatt die Löhne zu erhöhen oder Boni für die Systemrele­vanten zu verteilen. Oh je, nun habe ich zu tief ins Grabl geschaut, es ist schon ganz zerrupft. Ja, es gibt mehr Zeit denn je zu denken, zu steuern, zu wählen, aber auch zu genießen.

Monika K. Zanolin

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