Amerika muss reden lernen
Joe Biden will die Nation vereinen. Auch sein Lager wird sich bewegen müssen.
Joe Biden fand die richtigen Worte. „Um Fortschritte zu machen, müssen wir aufhören, unsere politischen Gegner als Feinde zu betrachten“, sagte er. Das war am Mittwoch, ein Wahlsieg des Demokraten begann sich gerade abzuzeichnen. Tags darauf legte Biden nach: „Die Demokratie ist manchmal chaotisch. Sie erfordert manchmal auch ein bisschen Geduld.“
Wie wahr. Und wie notwendig auch, das auszusprechen.
Amtsinhaber Donald Trump war da schon längst in anderen Welten unterwegs. Voll Aggression und Wut, vielleicht auch verzweifelt, feuerte er Salven von haltlosen Anschuldigungen über Wahlbetrug und Manipulationen ab. „Stoppt die Auszählung!“, forderte er immer wieder, und das war wohl einer der Höhepunkte in dieser Trump’schen Tragikomödie: Bei einem Stopp der Auszählung wäre Joe Biden angesichts seiner Aufholjagd in der Sekunde Wahlsieger gewesen.
Joe Biden, 77 Jahre alt, Mann der demokratischen Mitte, dürfte sich keine Illusionen über das Ausmaß der Aufgabe machen, die ihn erwartet, sollte er in das Weiße Haus einziehen. Er gilt schon allein wegen des Alters als Übergangspräsident. Politische Revolutionen werden nicht zu erwarten sein. Bidens Job, der angesichts der Überreiztheit der USGesellschaft schwierig genug ist, ist ein anderer: Er muss die Amerikaner wieder davon überzeugen, dass sie in einer gemeinsamen Realität leben. Gelingt dies nicht wenigstens in Ansätzen, bleibt jede Politik unmöglich.
Die gespaltenen Staaten von Amerika haben die Fähigkeit zum Kompromiss verlernt. Eine Fähigkeit, die, wie wir nur kurz anmerken wollen, das fein gemischte Lebenselixier der Europäischen Union ist.
In den USA ist der Wille zu mühsamer Verständigung und Ausgleich in den vergangenen Jahrzehnten Stück um Stück verloren gegangen. Das gilt nicht nur für bewaffnete Muskelprotze der rechten Milizen, die meinen, in den Kleinstädten ihren Lebensentwurf der Freiheit verteidigen zu müssen, oder für die frommen Kirchgänger in den Landregionen. Ebenso eingebunkert ist ein beträchtlicher Teil des liberalen, progressiven Amerika. Gender-Politik, LGBT-Rechte oder auch Forderungen wie die Auflösung der Polizei werden zuweilen in einer Schärfe vertreten, die jeden Dialog mit dem anderen Amerika unmöglich macht. Umso mehr, als dieses andere Amerika im besten Fall mitleidig, meist aber voll Verachtung wahrgenommen wird.
Nun streckt also Joe Biden die Hand zur Versöhnung aus. Als Integrationsfigur repräsentiert er die Linke, aber auch enttäuschte Republikaner und weiße Arbeiter, Schwarze, Junge und vor allem die deutliche Mehrheit der Bevölkerung. Wird die andere Seite, oder zumindest einige ihrer Vertreter, das Angebot annehmen?
Donald Trump wird es nicht tun. „Ich habe nicht verloren, selbst wenn ich verloren habe“– lautet seine rachedurstige Erzählung, und sehr, sehr viele werden ihm folgen. Trump genießt Heldenstatus bei seinen Fans. Er hat bei diesen Wahlen hervorragend abgeschnitten, trotz unzähliger Skandale, Lügen, gebrochener Versprechen und der brutalen Coronapandemie. Möglich, dass der Kult um ihn verblasst. Die Idee eines populistischen Nationalismus um jeden Preis wird bleiben.
Möglich auch, dass der jetzt 74-Jährige eine Kandidatur für 2024 ankündigt, allein schon, um Geld zu sammeln, das er zum Überleben braucht. Mehr als 420 Millionen Dollar persönliche Schulden werden in den nächsten Jahren fällig, und Trumps Immobilien sind jetzt schon Verlustträger.
Unabhängig davon hat Mitch McConnell, 78 Jahre alt, Führer der Republikaner im Senat, bereits eine gnadenlose Blockadepolitik im Senat angekündigt, sobald Joe Biden in das Weiße Haus einzieht.
Solange die alten Männer bei den Konservativen das Sagen haben, wird sich also wenig tun. Andererseits müssen sich beide Parteien recht rasch neu aufstellen – auch das eine Frage des Alters.
Für das aus US-Sicht nicht ganz so wesentliche Europa wäre mit einem Präsidenten Joe Biden vieles leichter. Allein die Rückkehr zur
Verwendung von Messer und Gabel in den internationalen Beziehungen würde Entspannung bringen. Donald Trump wird aus der Brüsseler Perspektive nicht verschwinden. Doch er wird innerhalb der Grenze des Landes bleiben, in das er gehört.