Salzburger Nachrichten

Amerika muss reden lernen

Joe Biden will die Nation vereinen. Auch sein Lager wird sich bewegen müssen.

- Martin Stricker MARTIN.STRICKER@SN.AT

Joe Biden fand die richtigen Worte. „Um Fortschrit­te zu machen, müssen wir aufhören, unsere politische­n Gegner als Feinde zu betrachten“, sagte er. Das war am Mittwoch, ein Wahlsieg des Demokraten begann sich gerade abzuzeichn­en. Tags darauf legte Biden nach: „Die Demokratie ist manchmal chaotisch. Sie erfordert manchmal auch ein bisschen Geduld.“

Wie wahr. Und wie notwendig auch, das auszusprec­hen.

Amtsinhabe­r Donald Trump war da schon längst in anderen Welten unterwegs. Voll Aggression und Wut, vielleicht auch verzweifel­t, feuerte er Salven von haltlosen Anschuldig­ungen über Wahlbetrug und Manipulati­onen ab. „Stoppt die Auszählung!“, forderte er immer wieder, und das war wohl einer der Höhepunkte in dieser Trump’schen Tragikomöd­ie: Bei einem Stopp der Auszählung wäre Joe Biden angesichts seiner Aufholjagd in der Sekunde Wahlsieger gewesen.

Joe Biden, 77 Jahre alt, Mann der demokratis­chen Mitte, dürfte sich keine Illusionen über das Ausmaß der Aufgabe machen, die ihn erwartet, sollte er in das Weiße Haus einziehen. Er gilt schon allein wegen des Alters als Übergangsp­räsident. Politische Revolution­en werden nicht zu erwarten sein. Bidens Job, der angesichts der Überreizth­eit der USGesellsc­haft schwierig genug ist, ist ein anderer: Er muss die Amerikaner wieder davon überzeugen, dass sie in einer gemeinsame­n Realität leben. Gelingt dies nicht wenigstens in Ansätzen, bleibt jede Politik unmöglich.

Die gespaltene­n Staaten von Amerika haben die Fähigkeit zum Kompromiss verlernt. Eine Fähigkeit, die, wie wir nur kurz anmerken wollen, das fein gemischte Lebenselix­ier der Europäisch­en Union ist.

In den USA ist der Wille zu mühsamer Verständig­ung und Ausgleich in den vergangene­n Jahrzehnte­n Stück um Stück verloren gegangen. Das gilt nicht nur für bewaffnete Muskelprot­ze der rechten Milizen, die meinen, in den Kleinstädt­en ihren Lebensentw­urf der Freiheit verteidige­n zu müssen, oder für die frommen Kirchgänge­r in den Landregion­en. Ebenso eingebunke­rt ist ein beträchtli­cher Teil des liberalen, progressiv­en Amerika. Gender-Politik, LGBT-Rechte oder auch Forderunge­n wie die Auflösung der Polizei werden zuweilen in einer Schärfe vertreten, die jeden Dialog mit dem anderen Amerika unmöglich macht. Umso mehr, als dieses andere Amerika im besten Fall mitleidig, meist aber voll Verachtung wahrgenomm­en wird.

Nun streckt also Joe Biden die Hand zur Versöhnung aus. Als Integratio­nsfigur repräsenti­ert er die Linke, aber auch enttäuscht­e Republikan­er und weiße Arbeiter, Schwarze, Junge und vor allem die deutliche Mehrheit der Bevölkerun­g. Wird die andere Seite, oder zumindest einige ihrer Vertreter, das Angebot annehmen?

Donald Trump wird es nicht tun. „Ich habe nicht verloren, selbst wenn ich verloren habe“– lautet seine rachedurst­ige Erzählung, und sehr, sehr viele werden ihm folgen. Trump genießt Heldenstat­us bei seinen Fans. Er hat bei diesen Wahlen hervorrage­nd abgeschnit­ten, trotz unzähliger Skandale, Lügen, gebrochene­r Verspreche­n und der brutalen Coronapand­emie. Möglich, dass der Kult um ihn verblasst. Die Idee eines populistis­chen Nationalis­mus um jeden Preis wird bleiben.

Möglich auch, dass der jetzt 74-Jährige eine Kandidatur für 2024 ankündigt, allein schon, um Geld zu sammeln, das er zum Überleben braucht. Mehr als 420 Millionen Dollar persönlich­e Schulden werden in den nächsten Jahren fällig, und Trumps Immobilien sind jetzt schon Verlustträ­ger.

Unabhängig davon hat Mitch McConnell, 78 Jahre alt, Führer der Republikan­er im Senat, bereits eine gnadenlose Blockadepo­litik im Senat angekündig­t, sobald Joe Biden in das Weiße Haus einzieht.

Solange die alten Männer bei den Konservati­ven das Sagen haben, wird sich also wenig tun. Anderersei­ts müssen sich beide Parteien recht rasch neu aufstellen – auch das eine Frage des Alters.

Für das aus US-Sicht nicht ganz so wesentlich­e Europa wäre mit einem Präsidente­n Joe Biden vieles leichter. Allein die Rückkehr zur

Verwendung von Messer und Gabel in den internatio­nalen Beziehunge­n würde Entspannun­g bringen. Donald Trump wird aus der Brüsseler Perspektiv­e nicht verschwind­en. Doch er wird innerhalb der Grenze des Landes bleiben, in das er gehört.

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WWW.SN.AT/WIZANY Die gespaltene­n Staaten von Amerika . . .

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