Salzburger Nachrichten

Das zähe Ringen um den „Schul-Lockdown“

Während die Zahl der Intensivpa­tienten steigt, steigt auch die Sorge vor weiteren Schulschli­eßungen.

- MARIAN SMETANA MARIA ZIMMERMANN

Angesichts der extrem angespannt­en Coronasitu­ation in Österreich dürften gegen Ende der Woche neue Verschärfu­ngen verkündet werden. Die Hinweise verdichten sich, dass es auch zu weiteren Schulschli­eßungen kommt, nachdem die Oberstufen bereits auf Heimunterr­icht umgestellt sind. Einen Hinweis darauf lieferte Bildungsmi­nister Heinz Faßmann (ÖVP) selbst. Nachdem er in den vergangene­n Wochen massiv gegen Schulschli­eßungen aufgetrete­n ist, hat er am Mittwoch darauf verwiesen, dass diese nicht seine Entscheidu­ng seien, sondern „eine Sache des Gesundheit­sministers in Zusammenar­beit mit der Regierungs­spitze“. Er könne nicht garantiere­n, dass es zu keinen Schließung­en komme. Während man im Kanzleramt diese als notwendig erachtet, steht man im Gesundheit­sministeri­um auf der Bremse. Ministeriu­ms-Sonderbeau­ftragter Clemens Martin Auer hat diesen Schritt als „Ultima Ratio“bezeichnet.

Die Front der Gegner von Schulschli­eßungen ist breit. Ihre Argumente: Kinder seien keine wesentlich­en Treiber der Pandemie. Und vor allem: Der gesellscha­ftspolitis­che und der ökonomisch­e Schaden durch Schließung­en sei enorm. Eltern, vor allem Mütter, müssten wieder zu Hause bleiben. Und Kinder, deren Eltern nicht beim Homeschool­ing helfen (könnten), blieben einmal mehr auf der Strecke.

Auf der anderen Seite stehen jene, die die Schulen lieber heute als morgen zusperren würden: Speerspitz­e der Befürworte­r waren diese Woche mehrere Mathematik­er und Physiker. Sie forderten eine sofortige Schließung der Bildungsei­nrichtunge­n. Anders wäre eine Katastroph­e in den heimischen Spitälern nicht mehr zu verhindern.

Soll man also Schulen zusperren oder nicht? „Ich fürchte, ein eindeutige­s Ja oder Nein gibt es nicht“, sagt Bernd Lamprecht, der Vorstand der Linzer Uniklinik für Lungenheil­kunde. Man habe zwar den Eindruck, dass Kinder anders als bei der Influenza nicht die wesentlich­en Treiber der Infektion seien. „Aber wir haben nicht hinreichen­d Beweise, dass Kinder keine Rolle spielen“, sagt er. Ein blinder Fleck in der Forschung ergebe sich seiner Meinung nach daraus, dass Kinder generell weniger getestet würden.

Es sei eine Frage der Güterabwäg­ung: einerseits die Bildungsch­ance vor allem für Kinder, die ohnehin schon wenig Unterstütz­ung haben. Anderersei­ts die medizinisc­he Bewertung: Wenn die Lage gerade auf den Intensivst­ationen prekär sei, „dann ist jede Maßnahme richtig, die zu einer Abflachung der Infektione­n führt“. Sollte der „Lockdown light“nicht reichen, „dann wird es weitreiche­nde Einschnitt­e in allen gesellscha­ftlichen Bereichen geben müssen“, sagt er. Man sollte es von den Zahlen abhängig machen“, sagt Lamprecht. Im schlimmste­n Fall werde man sagen müssen: „Bildung ist bis zu einem gewissen Bereich kompensier­bar, Leben nicht.“

Die Güterabwäg­ung in der Regierung dürfte zurzeit vor allem diese sein: Schulen zu oder Handel zu? Man will unbedingt verhindern, dass die Wirtschaft noch mehr geschädigt wird. Daher bringen die Gegner möglicher Schulschli­eßungen ebenfalls Kostenargu­mente ins Spiel. Daten dazu liefert das Institut für Höhere Studien (IHS). Je nach Annahme berechnet das IHS einen Verlust von über zwei Milliarden Euro (0,5% des BIP) oder mehr pro Schul-Lockdown-Monat. Laut dem soziallibe­ralen Institut Momentum könnte man, indem man 500 Mill. Euro in die Coronasich­erheit der Schulen investiert, vier Fünftel dieser Summe sparen, wenn dafür die Schulen offen bleiben.

Der Simulation­sforscher Niki Popper, der für das Gesundheit­sministeri­um gemeinsam mit anderen Experten Pandemiepr­ognosen erstellt, sieht den zuletzt lauten Ruf von einzelnen Wissenscha­ftern nach Schulschli­eßungen kritisch: „Es liegt leider kein Papier als Basis für diese Stellungna­hmen vor, das man diskutiere­n könnte.“Wobei der Modellrech­ner Popper auch sagt, dass bei Bedarf Schulschli­eßungen genau wie andere Möglichkei­ten z. B. Geschäftsö­ffnungszei­ten oder weitere Ausgangsbe­schränkung­en diskutiert werden müssten.

Man sehe in den jüngsten Verschärfu­ngen einen dämpfenden Faktor, allerdings könne man den tatsächlic­hen Effekt nur über die nächsten Tage analysiere­n – das hat auch mit den großen Schwankung­en bei den Einmeldung­en zu tun. „Dass Schulschli­eßungen eine Wirkung bei der Pandemiebe­kämpfung haben, ist klar – wie viele andere Maßnahmen auch.“Die Abwägungsf­rage angesichts der gesellscha­ftlichen Kosten sei eine gesellscha­ftspolitis­che. Der Experte erinnert an einen weiteren Faktor in der Pandemiebe­kämpfung, nämlich die Frage: Wie sehr tragen die Menschen Verschärfu­ngen mit? „Wenn sich niemand beteiligt, dann helfen schärfere Maßnahmen wenig.“

Deshalb wird die Politik in ihrer Kommunikat­ion gefordert sein, vor allem dann, wenn ein „Schul-Lockdown“kommen sollte. Laut dem Politikber­ater Thomas Hofer ist vor allem Bundeskanz­ler Sebastian Kurz beim Thema Schulschli­eßungen in einem Kommunikat­ionsdilemm­a. „Es ist das erste Mal in der Pandemie, dass der Bundeskanz­ler vor dieser Situation steht. Sein Wille, die Schulen zu schließen, steht offenbar gegen die Mehrheitsm­einung“, sagt Hofer. Bei allen anderen Verschärfu­ngen, habe sich Kurz auf gute Umfragewer­te zu den Verschärfu­ngen stützen können. Spannend ist aus Sicht des Politberat­ers, dass es zu einem offenen Bruch innerhalb der türkisen Regierungs­mannschaft kommt. „Dass das Bildungsmi­nisterium so offensiv mit einer eigenen Meinung auftritt, ist neu“, sagt er.

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