Das zähe Ringen um den „Schul-Lockdown“
Während die Zahl der Intensivpatienten steigt, steigt auch die Sorge vor weiteren Schulschließungen.
Angesichts der extrem angespannten Coronasituation in Österreich dürften gegen Ende der Woche neue Verschärfungen verkündet werden. Die Hinweise verdichten sich, dass es auch zu weiteren Schulschließungen kommt, nachdem die Oberstufen bereits auf Heimunterricht umgestellt sind. Einen Hinweis darauf lieferte Bildungsminister Heinz Faßmann (ÖVP) selbst. Nachdem er in den vergangenen Wochen massiv gegen Schulschließungen aufgetreten ist, hat er am Mittwoch darauf verwiesen, dass diese nicht seine Entscheidung seien, sondern „eine Sache des Gesundheitsministers in Zusammenarbeit mit der Regierungsspitze“. Er könne nicht garantieren, dass es zu keinen Schließungen komme. Während man im Kanzleramt diese als notwendig erachtet, steht man im Gesundheitsministerium auf der Bremse. Ministeriums-Sonderbeauftragter Clemens Martin Auer hat diesen Schritt als „Ultima Ratio“bezeichnet.
Die Front der Gegner von Schulschließungen ist breit. Ihre Argumente: Kinder seien keine wesentlichen Treiber der Pandemie. Und vor allem: Der gesellschaftspolitische und der ökonomische Schaden durch Schließungen sei enorm. Eltern, vor allem Mütter, müssten wieder zu Hause bleiben. Und Kinder, deren Eltern nicht beim Homeschooling helfen (könnten), blieben einmal mehr auf der Strecke.
Auf der anderen Seite stehen jene, die die Schulen lieber heute als morgen zusperren würden: Speerspitze der Befürworter waren diese Woche mehrere Mathematiker und Physiker. Sie forderten eine sofortige Schließung der Bildungseinrichtungen. Anders wäre eine Katastrophe in den heimischen Spitälern nicht mehr zu verhindern.
Soll man also Schulen zusperren oder nicht? „Ich fürchte, ein eindeutiges Ja oder Nein gibt es nicht“, sagt Bernd Lamprecht, der Vorstand der Linzer Uniklinik für Lungenheilkunde. Man habe zwar den Eindruck, dass Kinder anders als bei der Influenza nicht die wesentlichen Treiber der Infektion seien. „Aber wir haben nicht hinreichend Beweise, dass Kinder keine Rolle spielen“, sagt er. Ein blinder Fleck in der Forschung ergebe sich seiner Meinung nach daraus, dass Kinder generell weniger getestet würden.
Es sei eine Frage der Güterabwägung: einerseits die Bildungschance vor allem für Kinder, die ohnehin schon wenig Unterstützung haben. Andererseits die medizinische Bewertung: Wenn die Lage gerade auf den Intensivstationen prekär sei, „dann ist jede Maßnahme richtig, die zu einer Abflachung der Infektionen führt“. Sollte der „Lockdown light“nicht reichen, „dann wird es weitreichende Einschnitte in allen gesellschaftlichen Bereichen geben müssen“, sagt er. Man sollte es von den Zahlen abhängig machen“, sagt Lamprecht. Im schlimmsten Fall werde man sagen müssen: „Bildung ist bis zu einem gewissen Bereich kompensierbar, Leben nicht.“
Die Güterabwägung in der Regierung dürfte zurzeit vor allem diese sein: Schulen zu oder Handel zu? Man will unbedingt verhindern, dass die Wirtschaft noch mehr geschädigt wird. Daher bringen die Gegner möglicher Schulschließungen ebenfalls Kostenargumente ins Spiel. Daten dazu liefert das Institut für Höhere Studien (IHS). Je nach Annahme berechnet das IHS einen Verlust von über zwei Milliarden Euro (0,5% des BIP) oder mehr pro Schul-Lockdown-Monat. Laut dem sozialliberalen Institut Momentum könnte man, indem man 500 Mill. Euro in die Coronasicherheit der Schulen investiert, vier Fünftel dieser Summe sparen, wenn dafür die Schulen offen bleiben.
Der Simulationsforscher Niki Popper, der für das Gesundheitsministerium gemeinsam mit anderen Experten Pandemieprognosen erstellt, sieht den zuletzt lauten Ruf von einzelnen Wissenschaftern nach Schulschließungen kritisch: „Es liegt leider kein Papier als Basis für diese Stellungnahmen vor, das man diskutieren könnte.“Wobei der Modellrechner Popper auch sagt, dass bei Bedarf Schulschließungen genau wie andere Möglichkeiten z. B. Geschäftsöffnungszeiten oder weitere Ausgangsbeschränkungen diskutiert werden müssten.
Man sehe in den jüngsten Verschärfungen einen dämpfenden Faktor, allerdings könne man den tatsächlichen Effekt nur über die nächsten Tage analysieren – das hat auch mit den großen Schwankungen bei den Einmeldungen zu tun. „Dass Schulschließungen eine Wirkung bei der Pandemiebekämpfung haben, ist klar – wie viele andere Maßnahmen auch.“Die Abwägungsfrage angesichts der gesellschaftlichen Kosten sei eine gesellschaftspolitische. Der Experte erinnert an einen weiteren Faktor in der Pandemiebekämpfung, nämlich die Frage: Wie sehr tragen die Menschen Verschärfungen mit? „Wenn sich niemand beteiligt, dann helfen schärfere Maßnahmen wenig.“
Deshalb wird die Politik in ihrer Kommunikation gefordert sein, vor allem dann, wenn ein „Schul-Lockdown“kommen sollte. Laut dem Politikberater Thomas Hofer ist vor allem Bundeskanzler Sebastian Kurz beim Thema Schulschließungen in einem Kommunikationsdilemma. „Es ist das erste Mal in der Pandemie, dass der Bundeskanzler vor dieser Situation steht. Sein Wille, die Schulen zu schließen, steht offenbar gegen die Mehrheitsmeinung“, sagt Hofer. Bei allen anderen Verschärfungen, habe sich Kurz auf gute Umfragewerte zu den Verschärfungen stützen können. Spannend ist aus Sicht des Politberaters, dass es zu einem offenen Bruch innerhalb der türkisen Regierungsmannschaft kommt. „Dass das Bildungsministerium so offensiv mit einer eigenen Meinung auftritt, ist neu“, sagt er.