Bitte keinen dritten Lockdown
Experten appellieren, das Contact Tracing extrem auszubauen – und über das Ende des Lockdowns am 7. Dezember hinauszudenken.
Dem Contact Tracing droht der Kollaps. Derzeit ist es bundesweit nur noch in 23 Prozent aller Covid-19-Fälle möglich, die Infektionsquelle zurückzuverfolgen. Dabei sollte, um die Pandemie unter Kontrolle zu halten, jeder Infizierte innerhalb von 24 Stunden ausgeforscht und unter Quarantäne gestellt werden. Mittlerweile widmen sich rund 3500 Behördenmitarbeiter, Bundesheersoldaten und Langzeitarbeitslose der mühsamen Spurensuche. Entscheidend dabei ist, mit wie vielen Menschen eine positiv auf SARS-CoV-2 getestete Person Kontakt hatte. Und zwar 48 Stunden vor bis zehn Tage nach Erkrankungsbeginn (oder Erhalt eines positiven Bescheids).
In Wien sind es aktuell knapp 500 Personen, die täglich bis zu zehn Stunden am Telefonhörer hängen und versuchen, Coronainfizierten so viele Informationen wie möglich zu entlocken. In Salzburg sind es gar 700. Dort haben sich nach einem Aufruf 110 Gemeinden gemeldet, die rund 400 Mitarbeiter zum Nachverfolgen abgestellt haben. 200 sind es in Kärnten, 100 in der Steiermark, 130 in Tirol, 360 in Oberösterreich, 620 in Niederösterreich. Allein das Bundesheer stellt 1035 Soldaten zur Verfügung. Die große Nachfrage könne gestillt werden, sagt Heeressprecher Michael Bauer: „Wir haben seit 1955 jede Assistenzanforderung erfüllt.“Eine Verdoppelung sei möglich.
Doch: Reicht das? Bei derzeit durchschnittlich 7124 Neuansteckungen pro Tag sowie der groben Annahme, dass auf einen Infizierten zehn Kontakte kommen, hieße das: 70.000 Telefonate täglich.
Was erschwerend hinzukommt: „Es ist ein Unterschied, ob sich jemand bei einer geschlossenen Gesellschaft oder einem Fußballspiel angesteckt hat – oder ob er gar nicht
Vorarlberg hat die Lage wieder im Griff
mehr sagen kann, wo das passiert sein könnte“, gibt Werner Windhager von der AGES zu bedenken. Gerade Zweiteres war in den vergangenen Wochen immer wieder zu beobachten – vor allem in großen Einkaufszentren, die vorwiegend an Samstagen regelrecht gestürmt worden waren.
Zudem habe sich die Arbeit der Contact Tracer verändert, sagt Michael Burda, Pressesprecher beim Land Oberösterreich: „Man würde sich aus Behördensicht bei einigen Menschen mehr Kooperationsbereitschaft wünschen.“
Für den Umweltmediziner HansPeter Hutter von der MedUni Wien steht fest: „Wir müssen das Contact Tracing extrem ausbauen. Es ist Luft nach oben ohne Ende.“Derzeit seien mancherorts die Zahlen „so weit unten, dass man von einer Nachverfolgung nicht mehr reden kann“. Dennoch: „Am Contact Tracing führt kein Weg vorbei. Es ist das Gebot der Stunde. Wenn wir das nicht schaffen, wie sollen wir die nächsten Monate überstehen, ohne ständig zusperren zu müssen?“, stellt Hutter in den Raum. Man müsse über den 7. Dezember, also das Ende des Lockdowns, hinausdenken und -planen. „Die Vorweihnachtszeit wird nicht beschaulich werden. Alle werden hinausstürmen. Darum braucht der Handel ganz klare Präventionskonzepte“, fordert der Mediziner.
Beweis für die These, dass nur extremes Aufrüsten beim Contact Tracing erfolgreich sein kann, ist Vorarlberg. Dort lag die Nachverfolgungsquote zuletzt nur noch bei zehn Prozent. Am Wochenende wurden die 225 Mitarbeiter des Infektionsteams von 180 Landesbediensteten unterstützt. Die Folge:
Sämtliche Fälle wurden abgearbeitet, 4000 positiv getestete Personen angerufen. Am Montag verkündeten Landeshauptmann Markus Wallner und Gesundheitslandesrätin Martina Rüscher, man habe das Contact Tracing wieder im Griff. Vorarlberg ist auch das einzige Bundesland, das keine Soldaten anforderte, sondern sogar zurückgab.
Trotzdem bleibt die Lage in Österreich überaus ernst. Auch wenn die am Montag vermeldeten 4657 Neuinfektionen binnen 24 Stunden wegen des Wochenendes traditionell niedriger waren – die Zahl der Intensivpatienten stieg auf 612 Erkrankte. Insgesamt werden 4297 Betroffene in Spitälern behandelt. Innerhalb eines Tages starben 58 Infizierte, im Lauf der vergangenen sieben Tage gab es 433 Covid-Tote. Die meisten neuen positiven Tests gab es in Niederösterreich mit 1038, gefolgt von Oberösterreich mit 917. Deutlich weniger, nämlich 578 Neuinfektionen, meldete Tirol, 505 gab es in Wien, 468 in Salzburg.
Umweltmediziner Hans-Peter Hutter geht davon aus, dass der Lockdown die Infektionszahlen nach unten drücken wird. Dennoch warnt er eindringlich: „Wir dürfen diesen Erfolg nicht leichtfertig verspielen. Dieser Lockdown ist schon die zweite Ohrfeige. Die Frage ist, ob wir noch eine wollen.“