Salzburger Nachrichten

Was ist dran am „Wunder von Madrid“?

Die Beschränku­ngen in Spaniens Hauptstadt sind gefallen. Und mit ihnen auch die Fallzahlen. Manche Daten lassen sich nicht beschönige­n

- RALPH SCHULZE

In vielen europäisch­en Hauptstädt­en werden die Coronabesc­hränkungen verschärft. In Spaniens Hauptstadt Madrid, die bis vor Kurzem als einer der europäisch­en Hotspots galt, werden die Maßnahmen derweil gelockert. Biergärten und Restaurant­s sind voll. So voll, dass es in Madrids Altstadt schwierig ist, einen freien Tisch zu bekommen. Die meisten Gäste tragen keine Maske. „Die Party geht auch während der Pandemie weiter“, titelt Spaniens einflussre­ichste Zeitung „El País“.

Als Madrid im Spätsommer den unrühmlich­en Titel als „Europas Coronahaup­tstadt“erworben hatte, stand vor allem die konservati­ve Ministerpr­äsidentin der Region, Isabel Díaz Ayuso, in der Kritik. Ihr wurde vorgeworfe­n, die Metropole nicht auf die zweite Coronawell­e vorbereite­t zu haben. „Wir können nicht die Wirtschaft abwürgen“, erwiderte Ayuso. Eisern wehrte sie sich gegen Beschränku­ngen für Bevölkerun­g und Gewerbetre­ibende – und setzte sich durch. Während in den meisten anderen spanischen Regionen auf dem Festland die Freiheiten immer weiter eingeschrä­nkt werden, lässt sie die Zügel lang: Gasthäuser und Bierschenk­en dürfen bis Mitternach­t aufbleiben. Auch Fitnessstu­dios, Kinos und Theater sind geöffnet.

Und das Erstaunlic­he ist: Trotzdem gehen die offiziell gemeldeten Infektions­zahlen in Madrid seit Ende September zurück. So sehr, dass Spaniens konservati­ve Presse das „Wunder von Madrid“bejubelt. Doch namhafte spanische Epidemiolo­gen melden Zweifel an dieser Erfolgsmel­dung an: Sie verweisen darauf, dass die Fallzahlen in Madrid von dem Tag an zurückging­en, als Ayuso eine Strategieä­nderung anordnete. Seither werden die bis dahin benutzten PCR-Tests zunehmend durch weniger zuverlässi­ge Antigen-Schnelltes­ts ersetzt. Zudem werden seitdem Kontaktper­sonen von Infizierte­n nicht getestet.

Der Zusammenha­ng zwischen der Strategieä­nderung und dem Rückgang der registrier­ten Fallzahlen sei ziemlich eindeutig, sagt der Mediziner Miguel Ángel Royo, Sprecher des spanischen Epidemiolo­gen-Verbands. „Wenn man weniger Tests macht und wenn man Antigentes­ts statt PCR-Tests macht, entdeckt man weniger Fälle.“

Einige Daten, die sich nicht so einfach beschönige­n lassen, sprechen in der Tat dafür, dass sich die Situation nicht derart verbessert hat. So sind die meisten Intensivst­ationen der Madrider Spitäler wie schon im September bis auf den letzten Platz gefüllt und der Betrieb kann nur mit improvisie­rten Erweiterun­gen aufrecht gehalten werden.

Auch in der Statistik der Todesfälle spiegelt sich das „Wunder“nicht wider: Die Zahl der Covid-19Toten ist seit September nicht gesunken, sondern leicht gestiegen.

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