Der Erwachsenen Annie bleibt die junge Annie fremd
Als eine Meisterin der ungerührten Selbstbeobachtung schaut Annie Ernaux in „Die Scham“auf ihre Jugend zurück.
Die intellektuelle Elite Frankreichs, wie etwa Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, die den Diskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrschte, kam aus Paris, ihre Entwicklung erfolgte auf solidem bürgerlichen Grund. Für Annie Ernaux, Jahrgang 1940, war Bildung nichts Selbstverständliches. Dass sie eine höhere Schule besuchen durfte, galt als Ausnahme. Die Erfahrung teilt sie mit Didier Eribon, der in „Rückkehr nach Reims“, seiner viel beachteten Lebensbeschreibung, vom Kampf erzählt, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Für ihn wie Ernaux heißt, die Entwicklung eines Lebens zu verstehen, vor allem, Milieustudien zu betreiben. Biografisches Schreiben ist eine sozialhistorische Aufgabe. Es verbietet sich anekdotisches Erzählen. Erinnerungsbilder werden als Quellen genutzt, auf die Ernaux als „Ethnologin meiner selbst“angewiesen ist.
Ihr Weg ist der einer Absetzbewegung aus der Vorstellungswelt ihrer Herkunft. Ihre Eltern betreiben einen kleinen Laden mit angeschlossener Wirtschaft, die Kunst der Verstellung ist ausgeprägt, um niemanden zu vergrämen. „Höflichkeit war der herrschende Wert“, nach außen jedenfalls, er wird im familiären Bereich außer Kraft gesetzt. „Grobheit, Spott und Geschrei waren normale Formen der familiären Kommunikation.“
Diese internen Angelegenheiten bleiben geheim. Nichts darf nach außen dringen, es würde den Ruf ramponieren. Als Zielvorgabe ist ausgegeben, man müsse „wie die anderen sein“. Damit ist der individuelle Rahmen eingeengt. Das Mädchen Annie steckt in einer Anpassungsmaschine, aus der es kein Entkommen gibt. Das macht ihr nichts, weil sie eine andere Welt nicht kennt. In der katholischen Schule legt sie sich mit religiösem Eifer stark ins Zeug. Sie erfüllt die Vorgaben im Übermaß. Es ist leicht zu verstehen, dass der über Fünfzigjährigen – das Buch erschien in Frankreich 1997 – das Mädchen von damals fremd bleiben muss.
Eine Szene hat sich eingebrannt, die sie als Zwölfjährige erleben muss. Ihr Vater ist drauf und dran, ihre Mutter umzubringen. Das Kind kommt dazu, als sie die Hilfeschreie vernimmt, dann lässt der Vater von seinem Vorhaben ab. Die drei sitzen in der Küche, kommen allmählich zur Ruhe, unternehmen sogleich eine gemeinsame Radtour. Als wäre nichts geschehen! Gesprochen wird darüber nicht, der Vorfall wird unter die Rubrik Familiengeheimnis abgeheftet. Annie Ernaux hat den Frieden mit dieser Vergangenheit nicht geschlossen. Deshalb nimmt sie sich dieses Jahr genau vor, um herauszubekommen, wer sie damals eigentlich war.
Für die Jugendliche erwies sich die Welt als längst keine einheitliche mehr. Sie ist aufgehoben im Kosmos Familie, findet Erfüllung im Glauben und liest Fortsetzungsromane aus Zeitschriften, die Wünsche in Annie deponieren, für die es in ihrer Alltagswirklichkeit keine Entsprechung gibt. Die erwachsene, gebildete Autorin beobachtet die Regeln, den Sprachgebrauch, das Verhalten in den Kreisen, in denen sie sich als Jugendliche bewegt. Die Schule mit dem Anspruch, die Wahrheit zu verkünden und die Vervollkommnung junger Menschen anzustreben, bildet den Kontrast zum Elternhaus.
Scham bezeichnet Ernaux als das vorherrschende Gefühl, wegen ihrer Herkunft nicht zu entsprechen, Scham stellt sich ein beim Ausrasten ihres Vaters. Der Fleiß und der Druck, möglichst unscheinbar zu funktionieren, sind Kompensationshandlungen, „um unserer ganzen Art zu leben“etwas entgegenzusetzen. Ernaux ist die Meisterin der ungerührten Selbstbetrachtung. Mit ihrem Wissen um Psychologie hält sie sich zurück, ihr Buch macht sichtbar, wie sich Scham so tief in eine Person hineinfrisst, dass das Gleichgewicht gestört ist. Das genügt und ist großartig.