Virus verbreitete sich unbemerkt
Vor dem Lockdown stieg nicht nur die Zahl der Infizierten rasant, sondern auch die Dunkelziffer.
WIEN. Dunkelzifferstudie Nummer vier, deren erste Ergebnisse am Donnerstag von der Statistik Austria online gestellt wurden, bestätigt die These, dass an einem zweiten harten Lockdown kein Weg vorbeiführte – und dass Massentests offenbar notwendig sind. Denn der Anteil der unerkannten Infektionen ist viel höher als gedacht; tatsächlich angesteckt hatten sich zum Testzeitpunkt mehr als doppelt so viele Menschen, wie laut den offiziellen Zahlen als infiziert galten.
Durchgeführt wurden die 2263 Coronatests für den vierten Durchlauf der Dunkelzifferstudie vom Roten Kreuz in Kooperation mit der MedUni Wien. Und zwar just in den Tagen im November, als die offiziellen Infiziertenzahlen Rekordwerte erreichten: am 12., 13. und 14. November, der sanfte Lockdown war bereits zweieinhalb Wochen in Kraft und der harte stand unmittelbar bevor (17. November).
Ergebnis der Studie: 48 Testteilnehmer waren damals infiziert. Für die Mehrheit war das überraschend, weil sie keine oder kaum Symptome hatten. Nur ein kleiner Teil hatte damit gerechnet, positiv getestet zu werden. Eingeladen zum PCR-Test waren insgesamt 2504 Personen quer durch Österreich, 241 erschienen nicht, 24 von ihnen deshalb nicht, weil sie unterdessen als infiziert ausgemacht und in behördlich angeordnete Quarantäne geschickt worden waren. In Summe waren damit zum Testzeitpunkt mindestens 72 der insgesamt 2504 Personen infiziert. Zudem zeigte sich ein starkes West-Ost-Gefälle: Im Westen (Vorarlberg, Tirol, Salzburg, Oberösterreich) gab es signifikant mehr Fälle als im Osten (Niederösterreich, Wien, Burgenland).
Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung bedeutet das: Zwischen 12. und 14. November dürften rund 228.000 Personen in Österreich mit SARS-CoV-2 infiziert gewesen sein. Aber nur etwa 100.000 Personen – oder rund 45 Prozent – waren zum damaligen Zeitpunkt behördlich als infiziert erfasst. Eine Mehrheit von 55 Prozent war unerkannt oder zumindest (noch) unbestätigt positiv.
Für den Virologen Heinz Burgmann ist die hohe Dunkelziffer Mitte November eine Bestätigung für die Notwendigkeit des Lockdowns. Laut dem Mediziner von der MedUni
Wien fügt sich die Studie in das Bild, das man vor einigen Wochen vom Infektionsgeschehen hatte. „Viele Ansteckungen konnten nicht mehr zurückverfolgt werden und die meisten Infektionscluster wurden in Familien registriert, das passt zu den Studienergebnissen“, sagt Burgmann. Warum? „Irgendwie müssen die Infektionen in die Familien gekommen sein. Durch die jüngsten Untersuchung sieht man jetzt, dass offenbar asymptomatische oder sehr schwach symptomatische Infizierte das Infektionsgeschehen wesentlich vorangetrieben haben.“Dies unterscheide Corona wesentlich von anderen Viruserkrankungen. „Bei der Influenza sind die Menschen zum Beispiel am ansteckendsten, wenn schon Symptome zu spüren sind. Die Leute bleiben daher auch daheim, weil sie sich krank fühlen. Bei Corona ist man schon zwei Tage bevor die Krankheit überhaupt bemerkt wird sehr infektiös.“Deshalb sei die Kontaktreduktion so wichtig, der harte Lockdown sei wohl notwendig gewesen. Die schlechte Nachricht: „Die Dunkelziffer macht die Pandemiebekämpfung nicht leichter“, sagt Burgmann. Die gute Nachricht: „Offenbar gibt es einen großen Teil an Infizierten, die sehr schwache oder gar keine Symptome haben.“
Bildungsminister Heinz Faßmann, Auftraggeber der Studie, zieht folgenden Schluss: „Die vergleichsweise hohe Dunkelziffer zeigt uns, dass Instrumente wie die bevorstehenden Massentestungen dringend notwendig sind, um die Infektionsketten zu durchbrechen.“Das sieht man auch im Gesundheitsministerium
so. Die ersten Termine stehen ebenfalls bereits fest: Wien bittet seine Bevölkerung zwischen 2. und 13. Dezember zum Massentest, in Vorarlberg und Tirol finden die Massentests am 5. und 6. Dezember statt, in Salzburg und Kärnten am 12. und 13. Dezember. In Oberösterreich will man vom 12. bis 14. Dezember testen, im Burgenland von 10. bis 15. Dezember.
Wie viele unwissentlich Infizierte da gewissermaßen aus dem Verkehr gezogen werden können, ist ungewiss, zumal es u. a. von der Teilnahmewilligkeit und der Testqualität abhängt. Anzunehmen ist, dass mit der offiziellen Infiziertenzahl auch die Dunkelziffer bis zu den Massentests sinken wird. Schließlich, sagt Matea Paskvan von der Statistik Austria, müsste der dreiwöchige harte Lockdown seine Wirkung zeigen.
Laut dem Virologen Burgmann ist umgekehrt davon auszugehen, dass mit Ende des Lockdowns auch die Dunkelziffer wieder steigen wird. Um sie unter Kontrolle zu halten, müssten die Massentests wiederholt werden. In Südtirol, wo zuletzt rund 80 Prozent der Bevölkerung an einem Massentest teilgenommen haben, wird nun Phase 2 gestartet. Wöchentliche soll eine repräsentative Gruppe von 4900 Bürgern, darunter Schulpersonal, getestet werden. Burgmann: „Wichtig ist allerdings, dass die Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln trotz eines negativen Testergebnisses eingehalten werden. Das ist eine Momentaufnahme und die Dunkelzifferstudie zeigt klar, dass sich das Virus schnell und unbemerkt ausbreiten kann.“
Für den Mathematiker Stefan Thurner, der mit anderen Experten die wöchentliche Coronaprognose erstellt, zeigt die Dunkelzifferstudie, dass die zum Testen, Isolieren und Kontaktnachverfolgen eingesetzten Ressourcen nicht ausreichten. „Hätte man viele K1-Personen rechtzeitig herausgefischt, wäre die Zahl vermutlich nicht so hoch.“