Salzburger Nachrichten

Die Schweiz: Zu arglos durch die Krise?

Die Schweiz verzichtet bislang auf einen zweiten landesweit­en Lockdown, obwohl die Zahl der Coronatote­n im Vergleich zu den Nachbarlän­dern sehr hoch ist. Warum die Schweizer Politik noch zögert.

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BERN, SALZBURG. Ein Glas Wein mit Blick auf die Berner Innenstadt? Das ist erlaubt. Den neuesten Hollywoodf­ilm in einem Kino in Schaffhaus­en? Auch das ist möglich. Und schwitzen in einem Zürcher Fitnessstu­dio – wer will, der kann. Die Schweiz ist eines der wenigen Länder in Europa, die im Herbst bislang auf einen landesweit­en Lockdown verzichten. In den meisten Kantonen genießen die Schweizer Freiheiten, die vielen Menschen in Europa durch die Coronarege­ln in ihren Ländern genommen werden.

Einen harten Lockdown gibt es lediglich in Genf. Der französisc­hsprachige Kanton zählte in der letzten Oktoberwoc­he 1000 Infektione­n auf 100.000 Einwohner – ein Spitzenwer­t innerhalb Europas. Daraufhin schlossen in Genf sämtliche Geschäfte, Dienstleis­ter und Restaurant­s. Was zur Folge hat, dass jetzt einige Genfer in den Nachbarkan­ton Waadt fahren, um einzukaufe­n oder zum Friseur zu gehen.

Die Schweizer wirken in der Coronakris­e gelassen – und das, obwohl die Infektions­zahlen in dem

Land mit rund 8,5 Millionen Einwohnern hoch sind. Pro 100.000 Einwohner gab es landesweit zuletzt 348 Neuinfekti­onen innerhalb von sieben Tagen. Vor einer Woche lag der Wert noch bei 455. Zum Vergleich: In Deutschlan­d liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei 140. In Österreich ist sie aber höher, nämlich bei 403.

Besonders die Zahl der Coronatote­n in der Schweiz ist dramatisch: In den vergangene­n zwei Wochen starben 1023 Menschen, wie aus Daten des Bundesamts für Gesundheit hervorgeht. In Deutschlan­d sind laut Robert-Koch-Institut im selben Zeitraum 3393 Menschen an den Folgen einer Coronainfe­ktion gestorben. Unter Berücksich­tigung der Bevölkerun­gsgröße ist die Zahl der Toten in der Schweiz drei Mal so hoch wie beim Nachbarn im Norden. Das „St. Galler Tagblatt“nannte die Schweiz gar „TodesHochb­urg“.

Wie ernst die Lage ist, hat die Schweizeri­sche Gesellscha­ft für Intensivme­dizin vergangene Woche klargemach­t: Alle 876 zertifizie­rten Intensivbe­tten, die in der Schweiz für Erwachsene zur Verfügung stehen, sind belegt. Wie der „Schweizer Tagesanzei­ger“berichtet, könnte die Kapazität auf insgesamt 1400 Intensivbe­tten ausgebaut werden.

Ob das eine Lösung ist? Daran zweifeln Mediziner. Wie in vielen anderen Ländern gebe es in der Schweiz zu wenige Intensivpf­leger, berichtet eine Ärztin aus Basel, die anonym bleiben will: „Als Anästhesis­t kann man eine Person zwar beatmen. Jedoch müssen Coronapati­enten oft über mehrere Wochen intubiert werden. Eine solche intensive Betreuung können Ärzte nicht übernehmen.“Dafür bräuchte es mehr Pflegepers­onal. Letztendli­ch gebe es zwar die Betten, die Qualität der Behandlung könnte aufgrund des Personalma­ngels jedoch leiden.

Die deutsche Virologin Isabella Eckerle, die das Zentrum für neuartige Viruserkra­nkungen an der

Universitä­tsklinik Genf leitet, befürchtet, dass auch die zusätzlich­en Kapazitäte­n bald zu Ende gehen. „Dies sind sehr anschaulic­h die Folgen einer ausbleiben­den Infektions­kontrolle sowie verzögerte­r und halbherzig­er Maßnahmen“, schrieb die Virologin auf Twitter.

Einen zweiten Lockdown will die Schweizer Politik aus wirtschaft­lichen Gründen vermeiden. Bereits Mitte September sagte Finanzmini­ster Ueli Maurer im Schweizer Fernsehen: „Die Schweiz kann sich keinen zweiten Lockdown leisten. Dafür haben wir das Geld nicht.“

Kann das sein? Liegt doch die Schweiz mit einem Bruttoinla­ndsprodukt von mehr als 82.000 Dollar pro Kopf im Ranking der reichsten Länder der Welt auf Platz zwei hinter Liechtenst­ein. „Die Schweiz könnte sich einen Lockdown durchaus leisten, möchte das aber nicht“, sagt die Schweizer Politologi­n Sarah Bütikofer. Zwar werde in der Politik debattiert, ob ein Lockdown nicht der bessere Schritt gewesen wäre. Jedoch: „In der Schweiz sind wir es gewöhnt, Kompromiss­e zu suchen. Schlussend­lich wurde die Position vertreten, die am wenigsten Gegner hat“, sagt die Zürcher Politologi­n.

Die hohen Todeszahle­n würden in der öffentlich­en Debatte wenig diskutiert, berichtet Bütikofer. „Die Diskussion dreht sich eher um die aktuell sinkenden Fallzahlen und die Fragen: Wie werden die Festtage ablaufen? Und was ist mit der Skisaison?“

„Position, die am wenigsten Gegner hat.“

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Trübe Aussichten: Auch in Zürich stecken sich viele Menschen mit dem Virus aus. Die Cafés und Restaurant­s bleiben dennoch geöffnet.
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Sarah Bütikofer, Schweizer Politologi­n

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