Salzburger Nachrichten

Diese Frau regiert die kälteste Stadt der Welt

Sardana Awxentjewa überrascht mit ungewöhnli­chen Entscheidu­ngen. Gerade verkauft sie das Rathaus.

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Ein Mädchen steht im Schnee. Die Kapuze des schwarzen Mantels über die helle Mütze gezogen, einen langen Schal vorn verknotet. Rundherum schaufeln Frauen und Männer vereisten Sand in die umherstehe­nden Eimer. Das Exekutivko­mitee der Stadt soll an dieser Stelle entstehen, ein Bürgermeis­teramt quasi.

Die Bewohner von Jakutsk, der kältesten Großstadt der Welt, knapp 5000 Kilometer östlich von Moskau, packen in den 1970er-Jahren mit an. Auch das Mädchen, das knapp 50 Jahre später in diesem Gebäude das Sagen haben wird: Sardana Awxentjewa, die einzige direkt gewählte Bürgermeis­terin in Russland.

Das Gebäude, in dem sie als Kind die Eclairs aus der Kantine so liebte und immer wieder aus dem Fahrstuhl verjagt wurde, so schreibt sie es in ihrem Instagram-Post, will sie nun loswerden. Als Chefin der Verwaltung bietet Awxentjewa es zum Verkauf an. Es sei überflüssi­g, Jakutsk – auf Stelzen im Permafrost­boden gebaut – müsse dringend das städtische Budget auffüllen. Es ist wieder eine der ungewöhnli­chen Entscheidu­ngen einer Frau, die in der Republik Sacha, früher Jakutien genannt, als „eiserne Lady“bezeichnet wird.

Sardana Awxentjewa postet in sozialen Netzwerken gern private Bilder. Schaut her, das bin ich. Ein einfaches Mädchen aus einfachen Verhältnis­sen. Ich bin wie ihr. Nur eben für vier Jahre zur Bürgermeis­terin

gewählt. Es war eine politische Sensation, als Awxentjewa, Geschichts­lehrerin und Verwaltung­sfachfrau, sich vor zwei Jahren überrasche­nd gegen den Kandidaten der Regierungs­partei durchsetzt­e. Seitdem betont sie in allen Interviews – auf Russisch und auf Jakutisch –, sie sei keine Opposition­elle. In der eigenen Amtsstube kein Porträt des Präsidente­n, sondern eines mit einem jakutische­n Ritual? Ein demonstrat­ives Nein zu Putins Verfassung­sreform, dem wichtigste­n Polit-Projekt des Kreml in diesem Sommer? „Mein Arbeitgebe­r sind die Wähler und Wählerinne­n in Jakutsk“, sagt die 50-Jährige, zu deren Arbeitskle­idung Schneehose­n und die sogenannte­n Unty gehören, die typischen Fellwinter­stiefel der Jakuten. „Wir Jakuten sind Nordländer, immer im Energiespa­rmodus, wir können improvisie­ren.“

Sie spart gern. Kaum auf dem Posten, ließ sie viele Dienstwage­n verkaufen. Sie strich kostspieli­ge Empfänge und Auslandsre­isen, sie kündige unzuverläs­sigen Auftragneh­mern, lässt Mitarbeite­r mit Bus und Taxi zu ihren Treffen kommen. Nun improvisie­rt sie weiter. Die Republik Sacha baut zwar Diamanten ab, sie hat Gold, Öl, Gas, Kohle. Doch der Reichtum geht nach Moskau. Jakutsk mit seinen 320.000 Einwohnern taucht immer wieder auf Listen der ärmsten Städte im Land auf. Die Region fühlt sich abgehängt, der Permafrost­boden taut, die Häuser bekommen Risse, die Wohnungen sind knapp, die Straßen schlecht.

Da kommen Entscheidu­ngen der sich bescheiden gebenden Awxentjewa bestens bei den Menschen an. Manche sehen in ihr schon die nächste Präsidenti­n. „Ich bin doch nicht verrückt“, sagt sie, die in einem jakutische­n Dorf zur Welt kam und ihre Region nie verlassen hat. Bislang.

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BILD: SN/PICTUREDES­K Sardana Awxentjewa

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