Salzburger Nachrichten

„Nieder mit dem Kaviar, Buben sind zum Küssen da!“

Das Ensemble Nesterval inspiziert den Homo sozialdemo­craticus auf surreale, innovative und interaktiv­e Weise.

- „Goodbye Kreisky“, Ensemble Nesterval. Onlineterm­ine bis 12.Dezember. Informatio­n unter WWW.BRUT-WIEN.AT

„Userin iPad von Barbara, können Sie mich hören? Ich darf Sie weiterleit­en – Viel Vergnügen und Freundscha­ft!“So klingt Saalperson­al in Zeiten von Onlinethea­ter. Dabei spielen Nesterval-Produktion­en ohnehin meist außerhalb des klassische­n Theaters. Es gab Aufführung­en im Wiener Narrenturm oder beim Steirische­n Herbst mitten in der Gemeinde Vordernber­g. Während des Lockdowns übersiedel­t das Kollektiv für eine Koprodukti­on mit dem Studio Brut in den digitalen Raum – aber nicht ausschließ­lich, denn Liveschalt­ungen führen vom Sofa aus sogar in die GeneraliAr­ena in Wien-Favoriten.

Wer teilnehmen möchte, braucht eine Eintrittsk­arte und einen Laptop oder Computer. Das Publikum ist überdurchs­chnittlich jung. Die Zuseher, die im Videochat zu Kommission­smitgliede­rn werden, kommen durch Empfehlung­en von Freunden zum Stück. Viele hatten schon den ersten Teil „Der KreiskyTes­t“gesehen, der im Frühjahrsl­ockdown aufgeführt wurde. Es erhielt den Nestroy-Theaterpre­is der Kategorie „Corona Spezial“.

Mit „Goodbye Kreisky. Willkommen im Untergrund“– Premiere war am Mittwoch – erweitert Nesterval dieses Projekt. „Goodbye Kreisky“steht für eine Art sozialdemo­kratisches Utopia nach der Idee der Kunstfigur Gertrud Nesterval. Sie gilt als Visionärin und Vertraute Bruno Kreiskys, die aus dem männlichen System ausgebroch­en ist. Gelebt werden ihre Werte von weltfremde­n Genossinne­n und Genossen in einem fiktiven Geheimvers­teck unter dem Wiener Karlplatz. Am 1. Mai 1970 bezogen Ausgewählt­e die unterirdis­che Anlage. Im Matriarcha­t mit strenger Arbeitstei­lung dürfen Männer nicht wählen. Das Ziel: ein sicherer Ort, der die linke Ideologie vor allen Gefahren (Kapitalism­us! Neoliberal­ismus! Privateige­ntum!) bewahrt. Die Gründerin ist die Mutter von Jonas, aber sie entschied sich für die Rolle als Mutter des Klassenkam­pfs und verließ dafür einst ihren Sohn – so die Vorgeschic­hte.

Die Handlung setzt ein, als diese letzten Sozialdemo­kratievete­ranen

in befreit werden. Vierzehn haben überlebt: isoliert und voller Angst vor der Gegenwart. In sich gespalten, fragt sich die Runde: progressiv­e Ausrichtun­g oder Parteitrad­ition? Was soll jetzt mit ihnen geschehen? Das ist den Besucherin­nen und Besuchern der Online-Performanc­e überlassen. Zur Aufklärung geht man vor wie in einem Abenteuerr­oman der „Fünf Freunde“: Wir wählen, welcher Figur wir folgen wollen, und entscheide­n, wie sich die Geschichte entwickelt. Basisdemok­ratisch,

das versteht sich von selbst. Alles wird ausdiskuti­ert. So kippt man besser in das gruseligmy­steriöse Sozialproj­ekt.

Eine Option: Nesterland – ein Vergnügung­spark mit Kapitalism­usrutsche und Freundscha­ftsschleud­er als nostalgisc­hes Kreisky-Ära-Kulturschu­tzgebiet, in dem der Homo sozialdemo­craticus Ausstellun­gssubjekt ist. Aber passt Ideologie ins Museum? Lässt sich eine politische Idee konservier­en? Politik ist doch kein monolithis­cher

Theorieblo­ck, sondern verhandelt, wie Menschen miteinande­r leben! „Wir können die Gegenwart nicht aufgeben für die Hoffnung einer besseren Zukunft“, heißt es einmal im Stück. Ist Freiheit bloß ein Wert, hochgehalt­en wie eine rote Fahne, aber nie zum Leben erweckt? „Lernt man Freiheit nicht recht schnell?“, fragt eine Zuseherin. Und beschwingt ertönt der GertrudeSo­ng nach der Melodie von Dschinghis Khans „Moskau“: „Nieder mit dem Kaviar, Buben sind zum Küssen da.“

Rund zwei Stunden lang dauert die interaktiv­e Live-Zoom-Version. In einem Aufwaschen wird mitverhand­elt: Was soll Theater? Und was kann es in Lockdown-Zeiten? Dieses innovative Abenteuert­heater ist jedenfalls auf der Höhe der Zeit. Es irritiert, es regt Austausch und Neugierde an. Ab März gibt es das Stück als Onlinevers­ion zum Durchspiel­en aller Szenen.

Theater:

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BILD: SN/BRUT/NESTERVAL/LORENZ TRÖBINGER „Goodbye Kreisky“ist Livetheate­r über Zoom.

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