„Nieder mit dem Kaviar, Buben sind zum Küssen da!“
Das Ensemble Nesterval inspiziert den Homo sozialdemocraticus auf surreale, innovative und interaktive Weise.
„Userin iPad von Barbara, können Sie mich hören? Ich darf Sie weiterleiten – Viel Vergnügen und Freundschaft!“So klingt Saalpersonal in Zeiten von Onlinetheater. Dabei spielen Nesterval-Produktionen ohnehin meist außerhalb des klassischen Theaters. Es gab Aufführungen im Wiener Narrenturm oder beim Steirischen Herbst mitten in der Gemeinde Vordernberg. Während des Lockdowns übersiedelt das Kollektiv für eine Koproduktion mit dem Studio Brut in den digitalen Raum – aber nicht ausschließlich, denn Liveschaltungen führen vom Sofa aus sogar in die GeneraliArena in Wien-Favoriten.
Wer teilnehmen möchte, braucht eine Eintrittskarte und einen Laptop oder Computer. Das Publikum ist überdurchschnittlich jung. Die Zuseher, die im Videochat zu Kommissionsmitgliedern werden, kommen durch Empfehlungen von Freunden zum Stück. Viele hatten schon den ersten Teil „Der KreiskyTest“gesehen, der im Frühjahrslockdown aufgeführt wurde. Es erhielt den Nestroy-Theaterpreis der Kategorie „Corona Spezial“.
Mit „Goodbye Kreisky. Willkommen im Untergrund“– Premiere war am Mittwoch – erweitert Nesterval dieses Projekt. „Goodbye Kreisky“steht für eine Art sozialdemokratisches Utopia nach der Idee der Kunstfigur Gertrud Nesterval. Sie gilt als Visionärin und Vertraute Bruno Kreiskys, die aus dem männlichen System ausgebrochen ist. Gelebt werden ihre Werte von weltfremden Genossinnen und Genossen in einem fiktiven Geheimversteck unter dem Wiener Karlplatz. Am 1. Mai 1970 bezogen Ausgewählte die unterirdische Anlage. Im Matriarchat mit strenger Arbeitsteilung dürfen Männer nicht wählen. Das Ziel: ein sicherer Ort, der die linke Ideologie vor allen Gefahren (Kapitalismus! Neoliberalismus! Privateigentum!) bewahrt. Die Gründerin ist die Mutter von Jonas, aber sie entschied sich für die Rolle als Mutter des Klassenkampfs und verließ dafür einst ihren Sohn – so die Vorgeschichte.
Die Handlung setzt ein, als diese letzten Sozialdemokratieveteranen
in befreit werden. Vierzehn haben überlebt: isoliert und voller Angst vor der Gegenwart. In sich gespalten, fragt sich die Runde: progressive Ausrichtung oder Parteitradition? Was soll jetzt mit ihnen geschehen? Das ist den Besucherinnen und Besuchern der Online-Performance überlassen. Zur Aufklärung geht man vor wie in einem Abenteuerroman der „Fünf Freunde“: Wir wählen, welcher Figur wir folgen wollen, und entscheiden, wie sich die Geschichte entwickelt. Basisdemokratisch,
das versteht sich von selbst. Alles wird ausdiskutiert. So kippt man besser in das gruseligmysteriöse Sozialprojekt.
Eine Option: Nesterland – ein Vergnügungspark mit Kapitalismusrutsche und Freundschaftsschleuder als nostalgisches Kreisky-Ära-Kulturschutzgebiet, in dem der Homo sozialdemocraticus Ausstellungssubjekt ist. Aber passt Ideologie ins Museum? Lässt sich eine politische Idee konservieren? Politik ist doch kein monolithischer
Theorieblock, sondern verhandelt, wie Menschen miteinander leben! „Wir können die Gegenwart nicht aufgeben für die Hoffnung einer besseren Zukunft“, heißt es einmal im Stück. Ist Freiheit bloß ein Wert, hochgehalten wie eine rote Fahne, aber nie zum Leben erweckt? „Lernt man Freiheit nicht recht schnell?“, fragt eine Zuseherin. Und beschwingt ertönt der GertrudeSong nach der Melodie von Dschinghis Khans „Moskau“: „Nieder mit dem Kaviar, Buben sind zum Küssen da.“
Rund zwei Stunden lang dauert die interaktive Live-Zoom-Version. In einem Aufwaschen wird mitverhandelt: Was soll Theater? Und was kann es in Lockdown-Zeiten? Dieses innovative Abenteuertheater ist jedenfalls auf der Höhe der Zeit. Es irritiert, es regt Austausch und Neugierde an. Ab März gibt es das Stück als Onlineversion zum Durchspielen aller Szenen.
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