Sonntagsritual mit Mord und Chips
Die Beine ausstrecken und das Wochenende mit einem Krimi abschließen: Seit nunmehr 50 Jahren ist der „Tatort“ein Fixpunkt für Millionen. Die einst biedere TV-Unterhaltung hat im Jahr 2020 Kultstatus. Warum eigentlich?
SALZBURG. Wenn das Augenpaar und das Fadenkreuz auf dem Bildschirm auftauchen, ist klar: „Tatort“-Zeit. Die perfekte Markenbildung beginnt schon mit dem Vorspann, diesem Relikt aus einer Zeit, als etwa in Österreich die Ära Kreisky begann. Ein halbes Jahrhundert ist diese Krimireihe nun alt – in der von Schnelllebigkeit geprägten Mediengeschichte eine kleine Ewigkeit. Zum Jubiläum wird Weihrauch geschwenkt, ARD-Programmdirektor Volker Herres bezeichnet den „Tatort“als „kollektiven Traum im Fernsehen“.
Die am 29. November 1970 mit der Folge „Taxi nach Leipzig“gestartete „Fernsehreihe“– damals mit Walter Richter als Kommissar Trimmel – sei gesellschaftsstiftend, betont der ARD-Chef: „Ob in der eigenen Kneipe, im Freundeskreis oder beim Public Viewing in der Kneipe.“Geschafft werde eine Identifikation – „mit dem Land und seinen Regionen, seinen Menschen und Mentalitäten, seinen Eigenheiten und Befindlichkeiten“. Dass mit dem „Tatort“im Jahr 2020 die Flammen des letzten TV-Lagerfeuers züngeln, ist ein Gemeinplatz. Tatsache ist, dass das Konsumieren dieser Krimireihe bei vielen Menschen eine ritualisierte Handlung ist. Der „Tatort“sei ein profanisierter Gottesdienst, hieß es einmal. Will heißen: Immer zur gleichen Uhrzeit erfährt man, was richtig und was falsch ist. Wobei das Gute (zumeist) siegt. Das Publikum will mitleben, mitfiebern mit menschlichen Schicksalen, die Gefühlspalette reicht von Befürchtungen bis zur Genugtuung – eine Katharsis nicht ausgeschlossen.
Die Wiederkehr des Gleichen zieht in seinen Bann, der 20.15Uhr-Termin ist einer, bei dem die ganze Familie zusammenkommen kann, wo – ähnlich wie bei einem Fußballspiel – Chips aufgetischt, Bier oder Wein geöffnet werden. Ein letztes Stück Unbeschwertheit mit Als-ob-live-Charakter, bevor am folgenden Montag der Arbeitsalltag wieder beginnt. Eine Art Freizeitkult. Der Erfolg des „Tatort“hat auch viel mit Erinnerung, mit Nostalgie zu tun, die heutigen Eltern fühlen sich in ihre eigene Jugend zurückgebeamt, als der Sonntagskrimi im Kreise der Familie ein Wochenhöhepunkt war. Ähnlich wie die Show „Wünsch Dir was“, Rudi Carrells „Am laufenden Band“oder später „Wetten, dass..?“.
Der „Tatort“ist flexibel und wandelbar, mutierte vom sterilen Kammerspiel im bürgerlichen Kontext zum breit aufgestellten Krimiszenario: Der von Götz George verkörperte Kommissar Horst Schimanski sorgte mit seinem hemdsärmeligen Klassenkampf für eine Blutauffrischung, der Hang zum Experiment ist seither ausgeprägt und führte schon zu Hommagen an Italowestern, Zombiefilme, Hollywood-Action, Echtzeitserien oder an einen für das Hauptabendprogramm eher abgehobenen Eklektizismus. Scheitern ist kein Beinbruch, auch ein tolldreist misslungener „Tatort“ist am Montag im Büro (oder bereits am Abend via Twitter) ein attraktiver Empörungs-Gesprächsstoff.
Das zeitnahe Verhandeln gesellschaftspolitischer Narrative ist Teil des (Erfolgs-)Konzepts, freilich bleibt das Aufgreifen von Themen wie Klimawandel oder Rechtsextremismus meist in den Grenzen eines „öffentlich-rechtlichen Politainments“wie es der Medienwissenschafter Hendrik Buhl formuliert hat. Leicht verdauliches Bildungsfernsehen mit einem Betroffenheitskalkül im Abgang.
Starke Basis ist immer noch die vom „Tatort“-Erfinder Gunther Witte kreierte Verknüpfung von Krimi und Regionalität sowie das Identifizieren des Publikums mit „ihren“Gesetzeshütern. Man liebt sie – oder eben nicht. Zitat Schimanski, der Prolo-Bulle mit dem Herz am rechten Fleck: „Ich klapp dir die Fingernägel nach links.“