Hera Lind: „Dieses Buch ist Pflichtlektüre“
Der neue Roman der Bestsellerautorin schildert ein bitteres Frauenschicksal. Die wahre Geschichte lässt die Sorgen in Zeiten von Corona klein erscheinen.
SALZBURG-STADT. So gut wie jeden Tag steckt der Briefträger zwei bis drei dicke Kuverts in den Postkasten an der Adresse von Bestsellerautorin Hera Lind in der Salzburger Altstadt. Weitere fünf bis sechs Manuskripte landen täglich in digitaler Form in ihrem Posteingang. „Seit vielen Jahren schicken mir Menschen ihre Lebensgeschichten“, erzählt die Schriftstellerin. „In meinem Arbeitszimmer liegen rund 350 zum Teil handgeschriebene Geschichten, da sind unfassbar packende Schicksale dabei.“
Fast alle diese Geschichten stammen von Frauen. Ihre Erlebnisse liefern den Stoff für die Bücher der Bestsellerautorin, die sich vor zehn Jahren von dem Genre verabschiedet hat, das sie in den 1990er-Jahren im deutschsprachigen Raum zu einer der erfolgreichsten Autorinnen unterhaltender Frauenliteratur gemacht hat. Statt der heiteren Romane und Liebesgeschichten mit weiblichen Protagonistinnen schreibt sie nun Tatsachenromane, die auf realen und oft dramatischen Lebensgeschichten beruhen. In diesem Metier fühle sie sich zu Hause, sagt Lind. „Am Beginn meiner Karriere war ich jung und übermütig, mittlerweile bin ich 63 Jahre alt und Liebesromane à la Rosamunde Pilcher finde ich in meinem Alter nicht mehr glaubhaft.“Viel glaubhafter sei es, wahre Geschichten zu erzählen. „Ich hatte in meinem Leben ja auch viele Höhen und Tiefen, ich musste um meinen zweiten Mann kämpfen und ich hatte viele Krisen zu bewältigen.“
Lind war heuer bereits
mit zwei Büchern auf Platz eins der Bestsellerliste: Der Roman „Die Hölle war der Preis“spielt im Frauengefängnis Hoheneck in der ehemaligen DDR und schaffte es bereits in der Erscheinungswoche auf den ersten Platz. „Über alle Grenzen“erschien im Oktober und erzählt die wahre Geschichte über das Schicksal einer Familie im geteilten Deutschland.
Die tragische und zugleich berührende Lebensgeschichte einer Sudetendeutschen füllt das neue Buch der Autorin, das am 14. Dezember erscheint. Es trägt den Titel „Die Frau zwischen den Welten“. Das Buch sei gerade jetzt, in Coronazeiten, eine heilsame Lektüre, meint Lind. „Wenn man die Geschichte dieser Frau liest, wird einem bewusst, in welchem Luxus und in welcher Bequemlichkeit wir trotz der Pandemie leben und wie frei und selbstbestimmt wir sind, da bleibt nur pure Dankbarkeit.“Lind legt das
Buch all jenen ans Herz, die sich gerade eingeschränkt oder eingesperrt fühlen und glauben, dass sie sich nicht verwirklichen können. „Für sie ist das Buch Pflichtlektüre.“
Die Protagonistin Ella erfährt schon als Kind mit brutaler Härte, was es heißt, nach 1945 als Tochter einer Deutschen in der Tschechoslowakei aufzuwachsen. Revolutionsgarden erschlagen ihren Vater, die Mutter muss sich mit ihrem neugeborenen Sohn in einem tschechischen Dorf verstecken. Ella erträgt immer neue Schicksalsschläge: Klosterschule, Kommunismus, die Ehe mit einem Egozentriker, Psychiatrie – bis sie in Prag der großen Liebe begegnet. Mit dem jüdischen Arzt Milan ist sie zum ersten Mal glücklich. Die beiden setzen alles daran, dem Geheimdienst zu entkommen und mit Ellas kleiner Tochter aus der ersten Ehe in den Westen zu fliehen.
Bereits vor acht Jahren hatte die heute 88-jährige Eva Demner ihre sorgfältig zusammengetragene Lebensgeschichte an Hera Lind geschickt. Eigentlich hatte die Seniorin die 120 Seiten für ihren Enkel niedergeschrieben, der aber kein Interesse daran zeigte. Lange schlummerte die Geschichte daheim bei Lind in der Schublade. „Ich habe mich nicht drüber getraut, weil die Aufzeichnungen verwirrend und kompliziert zu lesen waren. Demner wartete geduldig. Vor einem Jahr bat sie Lind, ihr die Unterlagen wieder zurückzuschicken. Demner hatte die Hoffnung aufgegeben, dass ihre Lebensgeschichte jemals als Buch erscheint. „Das traf mich tief, ich habe mich sofort ans Werk gemacht, die Geschichte hat mich total gepackt“, erzählt Lind.
Kurz vor dem Lockdown im März wurde das Buch fertig. Lind verbrachte mehrere Tage bei Demner in Basel. „Sie war meine strengste Lehrerin und hat nur drei der 200 Seiten ohne Korrekturen übernommen.“Demner sei eine einzigartige, wundervolle, starke und tapfere Frau. „Es hat sich eine herzliche Freundschaft zwischen uns entwickelt.“Vor wenigen Tagen habe sie mit Demner telefoniert, um nachzufragen, ob sie die hundert Freiexemplare schon erhalten habe, erzählt Lind. „Sie hat vor Freude geweint.“Zu Hause in Linds Salzburger Wohnung liegt ein Teppich aus der einstigen Prager Wohnung von Demner. „Das ist so rührend, wir haben fast ein Mutter-Tochter-Verhältnis.“
Die vergangenen Monate seit dem Ausbruch der Pandemie hat Lind schreibend und wandernd