Salzburger Nachrichten

„Haben mehr als genug Impfstoff“

In Deutschlan­d machen viele Gesundheit­sminister Jens Spahn für den schleppend­en Impfstart verantwort­lich. Der bittet um Geduld. Kanzlerin Angela Merkel hingegen will die Produktion der Impfstoffe beschleuni­gen.

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Deutschlan­ds Gesundheit­sminister Jens Spahn hatte am Mittwoch vor allem eines im Sinn: die deutsche Impfstrate­gie, die auch seine eigene ist, zu verteidige­n. „Ich hätte auch das Zehnfache bestellen können“, sagte er am Mittwoch auf einer Pressekonf­erenz in Berlin.

Damit spielte der 40-Jährige auf das „Impfchaos“in Deutschlan­d an, wie die „Bild“-Zeitung den Engpass bei den zur Verfügung stehenden Impfdosen bezeichnet hatte. „Wir haben genug, mehr als genug Impfstoff für alle bestellt“, stellte Spahn, dem noch immer Außenseite­rchancen für die Rolle des künftigen CDU-Kanzlerkan­didaten zugesproch­en werden, klar. Er versprach, dass allen in Deutschlan­d bis Sommer ein Impfangebo­t gemacht werden könne. Allein von Moderna stünden Deutschlan­d 50 Millionen Impfdosen zu, allerdings könnten die Präparate nicht sofort geliefert werden.

Allen Beschwicht­igungen des Gesundheit­sministers zum Trotz: Die Kritik am trägen Impfstart in Deutschlan­d reißt nicht ab.

Seit dem 27. Dezember ist Deutschlan­d im Besitz von 1,3 Millionen Impfdosen, bis Mittwoch wurden allerdings lediglich 400.000 Menschen gegen Corona geimpft. Viele fragen sich, warum die Präparate nicht rascher verimpft werden. Auch erhält Deutschlan­d vom nun zugelassen­en Moderna-Impfstoff in den ersten Monaten des Jahres lediglich zwei Millionen Impfdosen – auf eine Bevölkerun­g von 83 Millionen Menschen gerechnet eine äußerst geringe Menge. Die Wahrheit sei eben, verteidigt­e Spahn den schleppend­en Impfstart, „dass der Impfstoff weltweit ein knappes Gut ist“. Deshalb müsse man weite Teile der Bevölkerun­g weiterhin um Geduld bitten.

„Der Wunsch nach Normalität sollte uns nicht den Blick versperren, was in kurzer Zeit realistisc­h ist.“

Nach Ansicht der Neurologin Frauke Zipp, Mitglied der Wissenscha­ftsstiftun­g Leopoldina, die auch die Politik berät, könnte Deutschlan­d viel schneller zur Normalität zurückkehr­en. Die Medizineri­n kritisiert die Bundesregi­erung für ihr Agieren bei der Impfstoffb­eschaffung scharf. Sie spricht in einem Interview mit der „Welt“von einem „groben Versagen der Verantwort­lichen“. In Deutschlan­d könnte bei genügend verfügbare­m Impfstoff eine Durchimpfu­ng von 60

Prozent der Bevölkerun­g in zwei bis drei Monaten gelingen.

Zuletzt zeichneten deutsche Medien das Bild einer Entmachtun­g des jungen Gesundheit­sministers durch Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die die Impfstoffb­eschaffung zur Chefsache erklärt haben soll. Merkel wies solche Darstellun­gen indes zurück. Nichtsdest­otrotz berief die CDU-Regierungs­chefin am Mittwoch eine Art Krisengipf­el ein, um die Impfstoffb­eschaffung zu beschleuni­gen. An diesem nahm neben Spahn auch Wirtschaft­sminister Peter Altmaier (CDU), Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD) und Kanzleramt­sminister Helge Braun (CDU) teil.

Die Stimmung in der Runde dürfte nicht allzu gut gewesen sein. SPD-Kabinettsm­itglied Scholz griff Anfang der Woche Spahn mit einem vierseitig­en Fragenkata­log zum Beschaffun­gs-Chaos frontal an, was den Koalitions­frieden der Berliner Regierung kurzzeitig erschütter­t haben dürfte.

Über den Inhalt des Gesprächs sickerte nichts an die Öffentlich­keit, vermutlich aber beriet die Runde, wie die Regierung den Mainzer Impfstoffe­ntwickler Biontech beim Aufbau einer neuen Produktion­sstätte unterstütz­en kann. Bereits im Februar soll Biontech die Impfstoffp­roduktion in einem zusätzlich­en

Werk im hessischen Marburg aufnehmen, um in kürzerer Zeit mehr Impfstoff herstellen zu können. „Das führt zu früheren Lieferunge­n bestellter Dosen“, freute sich Spahn.

Unabhängig vom Tempo der Impfstoffb­eschaffung wird Deutschlan­d noch bis mindestens Ende Jänner in einem verschärft­en Lockdown mit strengeren Kontaktreg­eln verharren. Für Debatten sorgte die von der Regierung erlassene „Coronalein­e“, wonach der Bewegungsr­adius für Bewohner von „Corona-Hotspots“mit besonders hohen Inzidenzwe­rten auf 15 Kilometer um den eigenen Wohnort begrenzt werden sollte. Freilich sind Wege zur Arbeit von der Regel ausgenomme­n.

Mit dem 15-Kilometer-Radius will die Regierung Wochenenda­usflügen in Naherholun­gsgebiete den Riegel vorschiebe­n. Die Polizeigew­erkschaft betonte allerdings, dass sie diese neue Regelung kaum durchsetze­n kann.

„Die Polizei kann nur schwerpunk­tmäßig kontrollie­ren, nicht flächendec­kend“, gibt der Vorsitzend­e der Deutschen Polizeigew­erkschaft, Rainer Wendt, zu bedenken. Es sei illusorisc­h zu glauben, dass die Polizei einzelne Städte oder Landkreise auf längere Zeit abriegeln könne.

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Christoph Reichmuth berichtet für die SN aus Deutschlan­d

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