Das erste Jahr von Türkis-Grün
Die Zusammenarbeit von ÖVP und Grünen hat sich seit dem Regierungsbeginn vor zwölf Monaten aufgrund von Corona massiv verändert. Der Koalitionspakt gilt nur noch in Teilen, die Zukunft der Regierung ist offen.
Genau ein Jahr ist es her, dass Bundespräsident Alexander Van der Bellen am 7. Jänner 2020 mit den Worten „Wir haben das gemeinsam ganz gut hingekriegt!“die Regierungsbildung beendete und die Koalition Kurz/Kogler angelobte. Ein Jahr später ist die Regierung mit nur einer Ausnahme (die Grünen tauschten ihre Kunststaatssekretärin aus) unverändert im Amt. Personell, nicht inhaltlich, wohlgemerkt. Denn im Gefüge der Regierung hat sich sehr viel geändert.
Der Beginn
Wie kann eine Koalition zweier so unterschiedlicher Parteien funktionieren? Diese Frage stieß auch international auf großes Interesse. ÖVP und Grüne beantworteten sie mit einer vertikalen Teilung der Politik: Jeder Partner sollte seinen Teil des politischen Feldes beackern (die ÖVP einen größeren, die Grünen einen kleineren), auf dem der andere Partner nichts dreinreden dürfe. So sollte „das Beste aus zwei Welten“entstehen, wie Bundeskanzler Sebastian Kurz sagte.
Die Corona-Wende
Wenige Monate später war dieses Koalitionsmodell freilich schon wieder Makulatur: Mit dem Auftreten des Coronavirus im Frühjahr war nicht mehr geteiltes, sondern gemeinsames Regieren gefragt. Fortan mussten die Koalitionspartner intensiv zusammenarbeiten, und das vorerst mit Erfolg. Dass Österreich schneller als andere Staaten auf den Ausbruch von Corona reagierte und damit besser durch die erste Welle kam, bescherte der Regierung traumhafte Umfragewerte. Auch dass trotz großer ideologischer Unterschiede nicht öffentlich gestritten wurde, brachte der Koalition Gutpunkte ein.
Die Stars
Profiteure des Höhenflugs im Frühjahr waren Kanzler Kurz und Gesundheitsminister Rudolf Anschober. Kurz ragte aus der unauffälligfarblosen ÖVP-Regierungsmannschaft hervor. Anschober genoss es sichtlich, als Gesundheitsminister im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Zwischenzeitlich waren seine Umfragewerte so gut, dass er bereits als nächster Präsidentschaftskandidat der Grünen gehandelt wurde. Doch Umfragekaiser ziehen logischerweise die Pfeile des politischen Gegners auf sich. Spätere Fehler in der Coronabewältigung wurden speziell Kurz und Anschober (dessen Ressort sich einige legistische Schnitzer leistete) angekreidet. Die Umfragewerte der beiden und der gesamten Regierung sanken daraufhin, sind aber immer noch sehr hoch.
Die Krise
Die Fehler in der Coronapolitik begannen sich ab Sommer zu häufen. Die Regierung getraute sich nicht mehr, mit der gebotenen Konsequenz gegen das Virus vorzugehen. Der Mut zu unpopulären Maßnahmen fehlte, was die Infektionszahlen in ungeahnte Höhen schießen ließ. Ein zweiter und ein dritter Lockdown waren die Folge, was die Stimmung im Land immer mehr sinken ließ. Im Rückblick lässt sich feststellen, dass die Regierung früher und härter auf die sich abzeichnende zweite Welle hätte reagieren müssen. Dem standen aber die öffentliche Meinung und der – im Unterschied zur ersten Welle – nicht mehr vorhandene nationale Schulterschluss entgegen.
Die Stärken
Auch zwischen den Koalitionsparteien gab es Differenzen über Zeitpunkt
und Ausmaß der Coronamaßnahmen. Selbst innerhalb der ÖVP gingen die Meinungen über die Notwendigkeit von Schulschließungen weit auseinander. Auch in anderen, nicht mit Corona zusammenhängenden Fragen traten klare Meinungsunterschiede zwischen den Koalitionsparteien zutage. Im Unterschied zu früheren Regierungen verkniff es sich Türkis-Grün aber, diese Meinungsverschiedenheiten offen auszutragen.
Bewundernswerte Selbstdisziplin legten dabei die Grünen an den Tag: Ihr bislang gescheitertes Bemühen, die ÖVP zur Aufnahme von Migranten aus den griechischen Lagern zu bewegen, hätte in früheren Regierungen zu einem handfesten, monatelangen Koalitionskrach geführt. Die Grünen nahmen es hin und setzten bei der ÖVP dafür eine massive Aufstockung der Katastrophenhilfe vor Ort durch.
Es zählt zu den erstaunlichsten Leistungen von Vizekanzler und Grünen-Chef Werner Kogler, dass die grünen „Fundis“, die man vor Beginn der Koalition als programmierte Spaltpilze eingeschätzt hatte, bis heute kaum in Erscheinung getreten sind. Die grüne Klubdisziplin im Parlament hält bislang.
Die Schwächen
Luft nach oben gibt es, was die Kommunikation der Regierung nach außen betrifft. Zwar gab sie so viele Pressekonferenzen wie noch kein Kabinett vor ihr. Sie verstand es aber nicht, die Oppositionsparteien und die Landeshauptleute dauerhaft ins Coronaboot zu holen. Der nationale Schulterschluss gegen die Pandemie wurde von der Koalition zwar ausgerufen und eingemahnt, aber nicht ausreichend gepflegt. Man hat den Eindruck, die Regierung ist sich selbst genug. Dass das aber nicht reicht, zeigte sich beim soeben gescheiterten Versuch, den Plan des „Freitestens“durchzusetzen.
Die Opposition
Ungeschickt hat sich im ersten Jahr von Türkis-Grün aber auch die Opposition verhalten. Anstatt zu versuchen, die bestehenden Differenzen
zwischen den Regierungsparteien auszunutzen und einen Keil in die Koalition zu treiben, haben SPÖ, FPÖ und Neos durch ihre Fundamentalopposition gegen nahezu jede Maßnahme die Koalition sogar noch zusammengeschweißt. Und: Eine wirkliche Alternative zur Coronapolitik der Regierung zeigte keine der Oppositionsparteien auf.
Die Themen
Corona, Corona, Corona. Abseits der Pandemie war die Regierung vornehmlich mit der Linderung von deren wirtschaftlichen Folgen beschäftigt. Zu diesem Zweck gab Türkis-Grün mehr Geld aus als je eine Regierung vor ihr. Das ist für Politiker eine komfortable Situation, denn wenn Geld keine Rolle spielt, lassen sich politische Ziele leichter verwirklichen. So flossen wesentlich mehr Mittel in den Klimaschutz, als die Grünen zunächst herausverhandelt hatten. Auch für die Sorgenkinder Justiz und Bundesheer war plötzlich mehr Geld da.
Zweites großes Thema des Jahres neben Corona war – nicht zuletzt wegen des islamistischen Terroranschlags in Wien – die Sicherheit. Was Anti-Terror-Maßnahmen und die Reform des Verfassungsschutzes betrifft, ging angesichts der grundlegend verschiedenen Haltungen von ÖVP und Grünen jedoch nicht wirklich viel weiter.
Die Bilanz
Eine Koalition beruht üblicherweise auf zwei Säulen: auf dem Koalitionspakt und auf dem vereinbarten Budgetkurs. Beides ist aber durch Corona zur Makulatur geworden. Das heißt, die Koalition musste sich in der Krise neu erfinden. Dafür funktioniert die im Grunde unmögliche Zusammenarbeit zwischen der konservativen, ewig (seit 1987!) regierenden ÖVP und den alternativen, soeben erst ins Parlament zurückgekehrten Grünen eigentlich ganz gut. Die Pandemie verdrängte Konflikte, die ansonsten wohl viel offener zutage getreten wären.
Der Ausblick
Falls die Coronagefahr irgendwann gebannt sein sollte, wird in der Politik wieder so etwas wie Normalität einkehren – auch was die koalitionsinternen Regeln und den Budgetkurs betrifft. Dann wird sich zeigen, ob Türkis-Grün auch in einem politischen Alltag – unter Spardruck und ohne alles andere in den Schatten stellendes Thema Nummer eins – funktionieren kann. Und ob die Wähler der Regierung die Fehler in der Coronabewältigung verzeihen. Ein Test dafür wird die oberösterreichische Landtagswahl im Herbst sein.