SN-Tourneebilanz Von Überfliegern und Pleitegeiern
Die 69. Vierschanzentournee geht allein schon wegen der besonderen Rahmenbedingungen in die Geschichte ein. Erstmals fand das seit 1953 ausgetragene Schanzenspektakel, für gewöhnlich ein Publikumsmagnet, aufgrund der Coronavirus-Pandemie ohne Zuschauer statt. Die polnische Mannschaft wurde nach einem positiven Testergebnis bei Klemens Murańka zuerst von der Tournee ausgeschlossen, um wenige Stunden vor dem Auftaktbewerb in Oberstdorf doch wieder zugelassen zu werden. Ein zweiter PCR-Test fiel negativ aus, was sich für Kamil Stoch als Glücksfall erweisen sollte. Der polnische Superadler gewann zum dritten Mal nach 2017 und 2018 die Gesamtwertung. Zumindest das Siegergesicht ist ein bewährtes in instabilen Zeiten. Aber es gab auch andere Konstanten, wie wir in unserer Tourneebilanz herausgefunden haben. Wir haben uns als Sprungrichter versucht und Haltungsnoten verteilt:
Kamil Stoch
20,0 Punkte. Kamil Stoch ist der Marcel Hirscher der Polen – ein Siegertyp und Liebling der Nation. Nach drei Olympiasiegen, zwei Weltmeistertiteln und zwei Gesamtweltcupsiegen holte sich der 33-Jährige aus Zakopane seinen dritten goldenen Tourneeadler. Dieser ist zweifellos ein besonderer, steigerte er sich doch mit jedem Sprung. Keine Frage: Stoch hatte das Glück, dass die Trainer vor Oberstdorf geschlossen für eine Wiederaufnahme der polnischen Mannschaft eintraten. Dennoch ist er ein hochverdienter Sieger.
Tourneeabwicklung
20,0 Punkte. Die Höchstnote haben sich auch die Verantwortlichen (im Bild Tourneepräsident Johann Pichler) für die Organisation und Durchführung verdient. Während viele sportliche Großveranstaltungen 2020 abgesagt oder auf 2021 verschoben werden mussten, stand die Vierschanzentournee nie auf der Kippe. Das Präventionskonzept der FIS und der Skiverbände aus Österreich und Deutschland als Veranstalter der Wettkämpfe hat sich bewährt. Durch die professionelle Vermarktung, die seit Jahren in den Händen von Infront liegt, und die lukrativen Einnahmen aus den TV-Geldern war das Skisprungspektakel auch in Coronazeiten finanziert – wenngleich es natürlich überall Abstriche geben musste. Der Skiclub Bischofshofen hat ohne Zuschauer Mindereinnahmen von 150.000 Euro zu beklagen.
ÖSV-Adler
18,0 Punkte. Beim finalen Dreikönigsspringen in Bischofshofen haben die Österreicher angedeutet, welches Potenzial in ihnen steckt – und welches sie auf den ersten drei Tourneestationen nicht ausgespielt haben. So muss der erste Gesamtsieg seit Stefan Kraft 2015 weiter warten. Der Salzburger Kraft (im Bild) wurde als Achter des Tourneeklassements bester ÖSV-Adler. Das wird den hohen Ansprüchen des erfolgsverwöhnten heimischen Skiverbands nicht gerecht. Oder gibt es diese Ansprüche sowohl bei den Alpinen als auch bei den Nordischen gar nicht mehr? Das Publikum jedenfalls sehnt sich wieder nach Seriensiegern wie einst Hermann Maier, Marcel Hirscher, Gregor Schlierenzauer oder Thomas Morgenstern.
DSV-Adler
17,0 Punkte. Von Überfliegern zu Pleitegeiern: Jahr für Jahr wiederholt sich das Schauspiel der deutschen Skispringer, die nach wie vor dem ersten Tourneesieg seit Sven Hannawalds „Grand Slam“vor sage und schreibe 19 Jahren hinterherspringen. Skiflug-Weltmeister Karl Geiger (im Bild) gewann den Auftakt auf seiner Haus- und Hofschanze in Oberstdorf, aber dann folgte für das DSV-Team eine kapitale Bruchlandung auf dem Innsbrucker Bergisel – und der Tourneesieg war zumindest um ein weiteres Jahr verschoben.
Halvor Granerud
16,0 Punkte. Gewinnen ist leicht, aber Verlieren will gelernt sein. Diese Erfahrung machte Norwegens aufgehender Skisprungstern Granerud durch. Nach fünf Saisonsiegen als Topfavorit zur Tournee gekommen, musste der 24-Jährige am Ende der Routine Kamil Stoch den Vortritt lassen. Dass er den Polen aber derart verbal attackierte, entspricht nicht dem Fair-Play-Gedanken im Sport. Er sprach im Zorn über seine eigene Leistung dem nun dreifachen Tourneetriumphator das Können ab – das grenzt an Majestätsbeleidigung. Die Entschuldigung folgte einige Stunden später.
Formkrise
Kacherl. Eine Frage haben wir bei dieser Tournee mehrmals gehört: Warum tun die sich das immer noch an? Der einstige Seriensieger Gregor Schlierenzauer, 53 Mal und damit so oft wie niemand anderer im Skisprungweltcup erfolgreich gewesen, quälte sich durch die Tournee, die mit der Disqualifikation in Bischofshofen ein unrühmliches Ende fand. Auch der mittlerweile 39-jährige Schweizer Simon Ammann, als vierfacher Olympiasieger ebenfalls hochdekoriert, springt dem Spitzenfeld weit hinterher. 19 Jahre nach seinem Sensationsgold in Salt Lake City im Harry-Potter-Look klassierte sich Ammann bei der Tournee jenseits der Top 50.