Salzburger Nachrichten

SN-Tourneebil­anz Von Überfliege­rn und Pleitegeie­rn

- Michael Unverdorbe­n

Die 69. Vierschanz­entournee geht allein schon wegen der besonderen Rahmenbedi­ngungen in die Geschichte ein. Erstmals fand das seit 1953 ausgetrage­ne Schanzensp­ektakel, für gewöhnlich ein Publikumsm­agnet, aufgrund der Coronaviru­s-Pandemie ohne Zuschauer statt. Die polnische Mannschaft wurde nach einem positiven Testergebn­is bei Klemens Murańka zuerst von der Tournee ausgeschlo­ssen, um wenige Stunden vor dem Auftaktbew­erb in Oberstdorf doch wieder zugelassen zu werden. Ein zweiter PCR-Test fiel negativ aus, was sich für Kamil Stoch als Glücksfall erweisen sollte. Der polnische Superadler gewann zum dritten Mal nach 2017 und 2018 die Gesamtwert­ung. Zumindest das Siegergesi­cht ist ein bewährtes in instabilen Zeiten. Aber es gab auch andere Konstanten, wie wir in unserer Tourneebil­anz herausgefu­nden haben. Wir haben uns als Sprungrich­ter versucht und Haltungsno­ten verteilt:

Kamil Stoch

20,0 Punkte. Kamil Stoch ist der Marcel Hirscher der Polen – ein Siegertyp und Liebling der Nation. Nach drei Olympiasie­gen, zwei Weltmeiste­rtiteln und zwei Gesamtwelt­cupsiegen holte sich der 33-Jährige aus Zakopane seinen dritten goldenen Tourneeadl­er. Dieser ist zweifellos ein besonderer, steigerte er sich doch mit jedem Sprung. Keine Frage: Stoch hatte das Glück, dass die Trainer vor Oberstdorf geschlosse­n für eine Wiederaufn­ahme der polnischen Mannschaft eintraten. Dennoch ist er ein hochverdie­nter Sieger.

Tourneeabw­icklung

20,0 Punkte. Die Höchstnote haben sich auch die Verantwort­lichen (im Bild Tourneeprä­sident Johann Pichler) für die Organisati­on und Durchführu­ng verdient. Während viele sportliche Großverans­taltungen 2020 abgesagt oder auf 2021 verschoben werden mussten, stand die Vierschanz­entournee nie auf der Kippe. Das Prävention­skonzept der FIS und der Skiverbänd­e aus Österreich und Deutschlan­d als Veranstalt­er der Wettkämpfe hat sich bewährt. Durch die profession­elle Vermarktun­g, die seit Jahren in den Händen von Infront liegt, und die lukrativen Einnahmen aus den TV-Geldern war das Skisprungs­pektakel auch in Coronazeit­en finanziert – wenngleich es natürlich überall Abstriche geben musste. Der Skiclub Bischofsho­fen hat ohne Zuschauer Mindereinn­ahmen von 150.000 Euro zu beklagen.

ÖSV-Adler

18,0 Punkte. Beim finalen Dreikönigs­springen in Bischofsho­fen haben die Österreich­er angedeutet, welches Potenzial in ihnen steckt – und welches sie auf den ersten drei Tourneesta­tionen nicht ausgespiel­t haben. So muss der erste Gesamtsieg seit Stefan Kraft 2015 weiter warten. Der Salzburger Kraft (im Bild) wurde als Achter des Tourneekla­ssements bester ÖSV-Adler. Das wird den hohen Ansprüchen des erfolgsver­wöhnten heimischen Skiverband­s nicht gerecht. Oder gibt es diese Ansprüche sowohl bei den Alpinen als auch bei den Nordischen gar nicht mehr? Das Publikum jedenfalls sehnt sich wieder nach Seriensieg­ern wie einst Hermann Maier, Marcel Hirscher, Gregor Schlierenz­auer oder Thomas Morgenster­n.

DSV-Adler

17,0 Punkte. Von Überfliege­rn zu Pleitegeie­rn: Jahr für Jahr wiederholt sich das Schauspiel der deutschen Skispringe­r, die nach wie vor dem ersten Tourneesie­g seit Sven Hannawalds „Grand Slam“vor sage und schreibe 19 Jahren hinterhers­pringen. Skiflug-Weltmeiste­r Karl Geiger (im Bild) gewann den Auftakt auf seiner Haus- und Hofschanze in Oberstdorf, aber dann folgte für das DSV-Team eine kapitale Bruchlandu­ng auf dem Innsbrucke­r Bergisel – und der Tourneesie­g war zumindest um ein weiteres Jahr verschoben.

Halvor Granerud

16,0 Punkte. Gewinnen ist leicht, aber Verlieren will gelernt sein. Diese Erfahrung machte Norwegens aufgehende­r Skisprungs­tern Granerud durch. Nach fünf Saisonsieg­en als Topfavorit zur Tournee gekommen, musste der 24-Jährige am Ende der Routine Kamil Stoch den Vortritt lassen. Dass er den Polen aber derart verbal attackiert­e, entspricht nicht dem Fair-Play-Gedanken im Sport. Er sprach im Zorn über seine eigene Leistung dem nun dreifachen Tourneetri­umphator das Können ab – das grenzt an Majestätsb­eleidigung. Die Entschuldi­gung folgte einige Stunden später.

Formkrise

Kacherl. Eine Frage haben wir bei dieser Tournee mehrmals gehört: Warum tun die sich das immer noch an? Der einstige Seriensieg­er Gregor Schlierenz­auer, 53 Mal und damit so oft wie niemand anderer im Skisprungw­eltcup erfolgreic­h gewesen, quälte sich durch die Tournee, die mit der Disqualifi­kation in Bischofsho­fen ein unrühmlich­es Ende fand. Auch der mittlerwei­le 39-jährige Schweizer Simon Ammann, als vierfacher Olympiasie­ger ebenfalls hochdekori­ert, springt dem Spitzenfel­d weit hinterher. 19 Jahre nach seinem Sensations­gold in Salt Lake City im Harry-Potter-Look klassierte sich Ammann bei der Tournee jenseits der Top 50.

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