Die Grenzen sind dicht, ein Pass soll sie öffnen
Die EU-Chefs stehen unter Druck. Sie sollen Maßnahmen lockern und gleichzeitig die Pandemie eindämmen.
Die Menschen sehnen sich nach Normalität. In allen EUStaaten ist Pandemiemüdigkeit zu bemerken. Die Regierungen stehen unter Druck, zumindest Perspektiven für eine Lockerung der Coronamaßnahmen zu bieten.
Noch sieht es nicht danach aus. Überall verbreiten sich Virusmutationen; sechs EU-Staaten haben ihre Grenzen zu den Nachbarn weitgehend dichtgemacht; in Portugal und der Slowakei ist die Lage so schlimm, dass sie die EU-Partner um Hilfe bitten mussten.
Das ist das Spannungsfeld, in dem die 27 Staats- und Regierungschefs handeln, wenn sie sich am Donnerstag zu einem Videogipfel zusammenschalten. Das Generalthema lautet: Tempo – beim Impfen und bei europaweit einheitlichen Impfpässen.
Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) kommt mit einem neuen Vorstoß auf den Gipfel. Er fordert einen „EU-weiten grünen Pass, mit dem man frei reisen, geschäftlich uneingeschränkt unterwegs sein und Urlaub machen kann ebenso wie Gastronomie, Kultur, Veranstaltungen und anderes endlich wieder genießen kann“.
Die Idee, dass ein EU-Impfpass die Türen und Grenzen öffnen soll, ist nicht neu. Er wurde vor Wochen von den Tourismusländern Griechenland, Spanien und Zypern ins Spiel gebracht. Auch Kroatien, Estland, Malta und die Slowakei gehen mittlerweile in diese Richtung. Israel, Zypern und Griechenland haben schon ausgemacht, solche Pässe anerkennen zu wollen.
Zwei Argumente stehen dem EUweiten Impfpass im Weg. Erstens: Solange nicht alle die Möglichkeit haben, sich impfen zu lassen, wäre der Impfpass diskriminierend.
Zweitens befürchten einige Staaten eine Impfpflicht durch die Hintertür.
Deutschland und Frankreich stehen auf der Bremse, die Niederlande und Belgien sind skeptisch.
Kurz versucht nun, die Bedenken aus dem Weg zu räumen. Sein „grüner Pass“nach israelischem Vorbild soll auf dem Handy gespeichert sein und Bewegungsfreiheit nicht nur durch den Nachweis einer Impfung schaffen, sondern auch durch einen negativen Test (nicht älter als 48 Stunden) oder eine überstandene Coronainfektion (nicht länger als sechs Monate her). „Wir wollen das jedenfalls bis zum Sommer haben“, sagte ein Sprecher des Kanzlers.
Alles, worauf sich die EU-Staaten bisher einigten, ist die Schaffung eines gemeinsamen Impfzertifikats zu medizinischen und dokumentarischen Zwecken. Die Kommission soll die technischen Voraussetzungen dafür schaffen.
Deren Vizepräsident, Margaritis Schinas, ein Grieche, der wie Kurz der Europäischen Volkspartei (EVP) angehört, betonte am Mittwoch, wie wichtig dieses gemeinsame Zertifikat sei. Nachsatz: „Und dann brauchen wir eher früher als später eine öffentliche Diskussion über die Frage der Nutzung.“Auch EVPFraktionschef Manfred Weber forderte: „Beschleunigen!“
Mit negativem Testergebnis kann man auch jetzt in der EU reisen, allerdings meist nur mit nachfolgender Quarantäne. Der Vorschlag von Kurz (Einreise bei Test, überstandener Infektion oder Impfung) würde bedeuten, dass die EU-Staaten ihre Quarantäneregeln weitgehend aufgeben müssten.
Das klingt nach ferner Zukunftsmusik, solange das Impfen in der
EU so schleppend verläuft und sich die Staaten vor Virusmutationen schützen wollen. Derzeit haben in der EU im Schnitt 6,3 Prozent der Bevölkerung zumindest eine Impfdosis erhalten. In Israel sind es 88 Prozent.
Das schleppende Tempo ruft fünf EU-Staaten auf den Plan. Die neuen Virusmutationen „gefährden die Bemühungen, die Pandemie zu kontrollieren und zum normalen Leben zurückzukehren“, schrieben die Regierungschefs von Litauen, Belgien, Dänemark, Spanien und Polen an Ratspräsident Charles Michel. Es müssten dringend die Produktionskapazitäten in der EU ausgebaut werden. Wie es um Produktion und Lieferung bestellt ist, sollen die Chefs der Pharmafirmen zeitgleich mit dem Gipfel bei einem Hearing im EU-Parlament erklären. Den Anfang macht Pascal Soriot, Chef von AstraZeneca.