Friseure machen den Anfang
In Deutschland sind seit Montag Friseursalons wieder geöffnet. Der Hunger nach Normalität ist damit aber nicht gestillt. Selbst immer mehr Länderchefs weichen von Merkels strengem Kurs ab.
Die Stimmung in Deutschland schlägt allmählich in Coronafrust um. Die Briten buchen fleißig Sommerurlaube und in Österreich vergnügen sich die Skifahrer, während die Polizei in Deutschland Jagd auf Regelbrecher in Parks macht und den coronamüden Bürgern Ausflüge ins Grüne untersagt werden. Zugleich gerät Gesundheitsminister Jens Spahn in die Schlagzeilen, weil er im Oktober bei einem edlen Abendessen in großer Runde mit potenziellen CDU-Spendern tafelte. Tags zuvor hatte er die Bürger zum Zu-Hause-Bleiben aufgerufen.
Dass die Stimmung kippt, lässt sich auch an aktuellen Umfragen ablesen: Zwei Drittel der Deutschen wollen, dass die Regierung nach zweieinhalb Monaten Lockdown und vier Monaten erheblicher Einschnitte endlich Lockerungen für den Einzelhandel oder für die Gastronomie beschließt. Noch im Dezember standen 75 Prozent der Befragten
hinter den harten Maßnahmen der Regierung.
Schuld an der zunehmenden Lockdown-Müdigkeit: Die Politik hält zu oft nicht, was sie ankündigt. Beim Impfen geht es nur schleppend voran, die von Gesundheitsminister Spahn versprochene Schnelltest-Offensive ab 1. März wurde nach einem Veto von Kanzlerin Angela Merkel verschoben. Zugleich zeigen die Daten, dass die Zahl der Coronatoten bei der besonders vulnerablen älteren Bevölkerungsgruppe sowie die Ansteckungsrate in Pflege- und Altersheimen drastisch gesunken sind. Wohl eine Folge der Impfungen. Auch die Situation in den Spitälern hat sich deutlich entspannt. So sehr, dass selbst der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Gerald Gaß, für Lockerungen plädiert: „Das Argument der Überlastung des Gesundheitssystems greift in der aktuellen Situation nicht. Wir können vorsichtig dort mehr zulassen, wo Infektionsschutz realisierbar ist.“
Kanzlerin Merkel hingegen ist bekannt für ihr vorsichtiges Agieren. Mit Blick auf die sich auch in Deutschland ausbreitenden Coronavirusvarianten legten sie und die Regierungschefs der Länder Anfang Februar die Messlatte für Lockerungen noch höher. Nicht mehr ab einer Inzidenz von 50 Ansteckungen auf 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche soll es Lockerungen geben, sondern erst ab einer Inzidenz von 35. Doch auch in Deutschland stiegen die Infektionszahlen zuletzt wieder an, die Inzidenz kletterte zuletzt auf über 60.
Die von Merkel und einigen Wissenschaftern angestrebte Inzidenz von 35 bedürfte nun einer Lockdown-Verlängerung von mehreren Wochen, was von einem Teil der erschöpften Bevölkerung kaum mehr mitgetragen würde. Bei den meisten
Regierungschefs und selbst beim Robert-Koch-Institut (RKI) hat daher ein Umdenken stattgefunden. Vor allem die SPD-geführten Bundesländer setzen auf eine Strategie, bei der auch bei höherer Inzidenz geöffnet werden könnte – dank des breiten Einsatzes von Schnelltestungen. Es bestehe Konsens, „dass wir die Möglichkeiten des Testens aktiv für eine Öffnungsstrategie verwenden wollen“, sagte Vizekanzler und SPD-Finanzminister Olaf Scholz. Kanzleramtschef Helge Braun kündigte am Montag für die nächsten Wochen eine kostenlose Schnelltest-Offensive an.
Am Mittwoch wollen die 16 Ministerpräsidenten und Kanzlerin Merkel den Weg zu Lockerungen festzurren. Die Stimmung hat sich gedreht, die Länderchefs sind dazu bereit, trotz drohender dritter Welle etwas mehr Risiko einzugehen. Für den Dresdner Politikwissenschafter Werner J. Patzelt ist klar: „Merkels innenpolitischer Einfluss schwindet unübersehbar.“