Salzburger Nachrichten

Grüner Angriff auf das deutsche Kanzleramt

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CHRISTOPH REICHMUTH

BERLIN. Die Grünen dürften mit einiger Verwunderu­ng verfolgen, was sich derzeit bei Deutschlan­ds größter Volksparte­i abspielt: Die Vorsitzend­en von CDU und CSU, Armin Laschet und Markus Söder, liefern sich seit Tagen einen kräftezehr­enden Machtkampf um die Kanzlerkan­didatur bei der Union.

Auch bei den Grünen böte die Konstellat­ion Stoff, sich um die Kandidatur zu streiten. Sie haben seit Jänner 2018 mit Annalena Baerbock und Robert Habeck zwei Vorsitzend­e, die beide die Kandidatur für sich in Anspruch nehmen könnten. Doch anders als bei der Union gibt es kein Gerangel, keine verbalen Sticheleie­n. „Ich glaube, keinem von uns fällt es schwer zu sagen: Du bist der oder die Richtige“, sagte Baerbock kürzlich dem „Spiegel“. Und Habeck ergänzte fast sanftmütig: „Es geht ja nicht nur um die Möglichkei­t, dass einer von uns beiden Kanzlerin oder Kanzler werden könnte. Das geht über uns hinaus.“

Noch nie in der Geschichte der Partei war die Macht so greifbar nahe wie in diesem Jahr. Aktuelle Umfragen sehen sie bei stattliche­n 23 Prozent, vier Prozent hinter der Union von Kanzlerin Angela Merkel. Bekommt die Regierung die Coronapand­emie bis Sommer nicht unter Kontrolle oder gerät die Union aufgrund des aktuellen Machtkampf­s in ernsthafte interne Turbulenze­n, könnten die Grünen zur stärksten Kraft aufsteigen und die Union nach 16 Jahren an der Regierung in die Opposition bugsieren.

Noch vor wenigen Monaten stand quasi fest, dass die Grünen mit dem landesweit populären Robert Habeck ins Rennen steigen werden. Der 51-jährige Philosoph und Germanist aus Lübeck legte eine untypische Politikerk­arriere hin, trat erst spät den Grünen bei, machte sich als Schriftste­ller einen Namen und war vor seinem Wechsel an die Parteispit­ze Umweltmini­ster von Schleswig-Holstein. Die Medien stürzten sich auf den etwas abgehoben-intellektu­ell daherkomme­nden Norddeutsc­hen. „Alle elf Minuten verliebt sich ein Journalist in Robert Habeck“, wurde gewitzelt.

Doch Annalena Baerbock – studierte Völkerrech­tlerin – ist längst aus seinem Schatten herausgetr­eten, dank ihrer eloquenten Auftritte und ihrer Sachkenntn­isse. Bundesweit­e Umfragen sehen zwar Habeck noch immer leicht im Vorteil. Doch parteiinte­rn hat Baerbock ihren

Co-Chef inzwischen überholt. Und da sich die Grünen auch als feministis­che politische Kraft verstehen, dürfte es vermutlich auf eine Kanzlerkan­didatin Baerbock hinauslauf­en. Auch um ein Zeichen zu setzen: SPD und Union gehen mit nicht mehr ganz so junge Männern in die Wahl, die FDP und AfD vermutlich ebenfalls.

Wie auch immer die Wahl ausgehen wird: Der Aufstieg der Grünen ist bemerkensw­ert. Die Partei ist inzwischen in elf von 16 Landesregi­erungen vertreten, im konservati­ven Baden-Württember­g stellen sie den Regierungs­chef. Die Grünen sind längst nicht mehr nur die Gruppe der sandalentr­agenden Baumschütz­er und Atomgegner, sie ist längst im politische­n Establishm­ent angekommen. Die Partei wird dominiert von „Realos“, wozu auch Baerbock und Habeck zählen. Altlinke eines Schlags von Ex-Umweltmini­ster Jürgen Trittin kommen kaum mehr zur Geltung. „Die Grünen sind heute eine stark akademisie­rte Partei mit dem durchschni­ttlich höchsten Bildungsgr­ad aller Parteien in Deutschlan­d“, sagt Demokratie­forscher Wolfgang Merkel. Verwurzelu­ng im linken Spektrum sei nur noch lose. Und: „Die Institutio­nen haben die Grünen an allen Ecken und Kanten abgeschlif­fen. Radikal sind sie heute bestenfall­s in Klimafrage­n. Die Verteilung­sfrage ist bei den Grünen hingegen nachrangig“, sagt Merkel.

Am Montag will sich die Partei entscheide­n. Baerbock lässt keine Zweifel, dass sie sich das Kanzleramt zutraut. Was, wenn es doch Habeck macht? „Natürlich ist es am Ende ein kleiner Stich ins Herz.“

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