Salzburger Nachrichten

Zerstörtes Land, zerstörtes Leben

Sohrab Mayel verlor bei einem Anschlag in Kabul seinen zweijährig­en Sohn und seine schwangere Frau. Eine Geschichte aus einem Land, das einfach nicht zur Ruhe kommt.

- Sayed Abdullah Mohammadi, Arzt

Als Sohrab Mayel erfährt, dass der Bus, in dem sein zweijährig­er Sohn und seine schwangere Frau saßen, explodiert ist, beginnt er zu laufen. Er rennt von seinem Büro bei der Afghan Telecom durch das Zentrum Kabuls bis zum Arbeitspla­tz seiner Frau im Bildungsmi­nisterium, wo er die beiden am Morgen abgesetzt hat. Dann nimmt er ein Taxi. Zuletzt rennt er wieder, bis zu dem Ort, wo die Bombe hochgegang­en ist. Der Bus brennt. Ganz hinten, wo Khatra und Arsh stets saßen, ist er total deformiert.

Keine 24 Stunden später werden Khatra und Arsh Mayel zu Grabe getragen. Ein Geistliche­r mit Turban und langem Bart macht in seiner Trauerrede „die Ungläubige­n und den Westen“für das Leid verantwort­lich. Aber Sohrab Mayel will davon nichts wissen. „Ich bin sicher, dass die Person, die diese Bombe gelegt hat, aus diesem Land stammt“, sagt er. Auch wenn er wahrschein­lich nie erfahren werde, wer den Anschlag befohlen habe.

Bei der Attacke auf den Bus, der die Mitarbeite­rinnen des Bildungsmi­nisteriums nach Hause bringen sollte, starben neben Khatra und Arsh Mayel drei weitere Frauen. Insgesamt wurden im vergangene­n Monat in Afghanista­n 305 Menschen bei Anschlägen getötet und 350 verletzt. In den meisten Fällen gab es keine Bekennersc­hreiben.

Seitdem die USA und die Taliban im Februar letzten Jahres ein Abkommen unterzeich­net haben, das den Abzug der ausländisc­hen Truppen vorsieht, haben die Islamisten ihren Modus Operandi geändert. Statt auf komplexe Selbstmord­anschläge zu setzen , arbeiten sie Todesliste­n ab, auf denen Politiker, Aktivisten, Journalist­en oder eben Ministeriu­msmitarbei­ter stehen.

Doch auch andere Terrorgrup­pen wie der „Islamische Staat“(IS) könnten verantwort­lich sein, nicht zuletzt auch die Regierung, um die Verhandlun­gen mit den Taliban zu torpediere­n. „Einige Mitglieder der Regierung sind der Überzeugun­g, dass sie den Krieg gewinnen können, verfügen sie doch immerhin über insgesamt 300.000 Polizisten und Soldaten“, sagt Thomas Ruttig. Der Deutsche, Co-Gründer und CoDirektor des Forschungs­instituts Afghanista­n Analysts Network, gilt internatio­nal als einer der besten Kenner des Landes.

Seit dem Einmarsch der Sowjetunio­n 1979 kommt Afghanista­n nicht zur Ruhe. Auch nach dem Sturz der Taliban vor bald 20 Jahren nicht. „Afghanista­n war damals eine Wiederaufb­auaufgabe“, sagt Ruttig, „doch US-Präsident George W. Bush setzte stattdesse­n auf das Aufspüren versprengt­er Al-Kaidaund Taliban-Reste. Das war eine absolut fehlgeleit­ete Politik.“Wer die katastroph­ale Lage im Land verstehen will, muss sich immer wieder die Geschichte ansehen. Viele Fehler

Tamana Ayazi und Thore Schröder berichten für die SN aus Afghanista­n

wiederhole­n sich, etwa indem die Regierung von US-Präsident Joe Biden nun die Afghanen zu einem Frieden mit den Taliban zwingen will und auf die Heimholung ihrer Truppen fokussiert. „Das ist im Prinzip weiter eine Trump-Politik, nach dem Motto ,nach mir die Sintflut‘“, sagt Ruttig.

Verlassen die verblieben­en USSoldaten das Land, verlieren die afghanisch­en Truppen nicht nur moralische Unterstütz­ung. In den vergangene­n Jahren waren sie oft nur mithilfe von US-Luftschläg­e in der Lage, wichtige Bevölkerun­gszentren zu halten. Die Taliban könnten nach dem Abzug weitere Gebiete überrennen.

Schon jetzt leben rund 50 Prozent der Bevölkerun­g unter TalibanKon­trolle, die Armutsquot­e ist laut Weltbank infolge der Pandemie auf über 70 Prozent gestiegen. Trotz allem haben sich einige Bürger in den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n etwas aufbauen können, die Familie von Sohrab Mayel zum Beispiel. Sie lebte früher in der nördlichen Provinzhau­ptstadt Kunduz. Ende der 1990er-Jahre versuchten die damals herrschend­en Taliban dort wie überall Kämpfer zu rekrutiere­n. „Als meine Brüder zum Kriegsdien­st eingezogen werden sollten, sind sie geflohen. Schließlic­h gingen wir alle nach Pakistan, erst Jahre später fanden wir einander wieder“, erinnert sich Sohrab Mayel.

Er ist der jüngste von vier Brüdern. Besonders die Unterstütz­ung seiner Mutter, die vor fünf Monaten an einem Schlaganfa­ll starb, hat ihm vieles ermöglicht. „Unter den Taliban war sie Schneideri­n. Dann hat sie wieder als Lehrerin gearbeitet“, sagt er und beschreibt, wie die Frau jeden Morgen eine Dreivierte­lstunde zu Fuß zu ihrer Schule gegangen ist, um das Fahrgeld zu sparen, damit er studieren konnte.

Parallel zu seinem Informatik­studium lernte Sohrab Mayel Englisch, nahm an Fortbildun­gsprogramm­en der Weltbank in Indien teil. Seine fünf Jahre jüngere Frau hatte Finanzwirt­schaft studiert und war im Bildungsmi­nisterium für die Haushaltsp­lanungen der Provinzen zuständig. Sie hatten sich über ein Chatprogra­mm kennengele­rnt und 2017 geheiratet. 2018 kam Arsh zur Welt. „Sie war perfekt für mich“, sagt Sohrab Mayel, „ich werde keine andere Frau finden wie sie, ich will es auch nicht.“

Zuletzt hatten die Eheleute diskutiert, in welcher Farbe sie ihr Zimmer streichen sollten. Als bald vierköpfig­e Familie bewohnten sie einen zwölf Quadratmet­er kleinen Raum in der Wohnung der Mayels. Abends vor dem Schlafenge­hen legte er manchmal seine Hand auf ihren Bauch, um die Bewegungen seiner ungeborene­n Tochter zu spüren. „Sie war so lebhaft, eine Tänzerin“, lächelt er. Dann öffnet Sohrab Mayel den Schrank. Darin: Sonnenbril­len, seine Uhren, Arshs Zahnbürste, die wie ein Pinguin geformt und noch voller Zahnpasta ist.

In Afghanista­n kann es jeden treffen, der für den Staat tätig oder auch nur zur falschen Zeit am falschen Ort ist. An vielen Stellen hat sich Kabul in den vergangene­n 20 Jahren in eine moderne Festung verwandelt. Botschafte­n, Ministerie­n, Stiftungsb­üros und Hilfsorgan­isationen werden mit Betonmauer­n,

Stacheldra­ht, Checkpoint­s und Sicherheit­sschleusen geschützt. Große Teile sind wie herausgesc­hnitten und vom überwiegen­den Teil der 4,4 Millionen Einwohner der Stadt nicht zu betreten.

Indes schreitet der Exodus aus Afghanista­n weiter voran. Weltweit sind etwa 2,6 Millionen Geflüchtet­e aus dem Land registrier­t. Hinzu kommen laut Schätzunge­n der Vereinten Nationen weitere zwei Millionen nicht dokumentie­rter Afghanen im Ausland. Wer noch im Land ist, bleibt wegen fehlender Mittel oder zu versorgend­er Familienmi­tglieder – oder aber aufgrund einer höheren Bestimmung.

Zu Letztgenan­nten gehört der Arzt Sayed Abdullah Mohammadi, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Der Direktor der Wazir-Akbar-Khan-Klinik, einem der größten Krankenhäu­ser in Kabul, sagt: „Mein Volk braucht mich hier.“Der orthopädis­che Chirurg hat in Leipzig und Osaka studiert; wenn es nach seinen vier Kindern gegangen wäre, wären sie in Japan geblieben. „Es vergeht kein Tag, an dem sie mich nicht fragen, warum wir zurückgeko­mmen sind“, sagt der Arzt. Er wird immer wieder mit dem Tode bedroht, weil er für eine staatliche Klinik arbeitet.

Dass sich das Vorgehen der Taliban geändert hat, dass seit 2020 nicht mehr Gebäude attackiert werden, sondern Einzelpers­onen oder Gruppen, kann der Chirurg bestätigen: „Jeden Tag explodiere­n zwei, drei Haftminen in Kabul, meist am Morgen.“Dann führt der Arzt durch die Klinik. In einem Sechsbettz­immer im zweiten Stock angekommen, begrüßt er einen Patienten. Gulabdscha­n Sultani war auf dem Weg in den Iran, um dort einen neuen Job zu finden, um seine Frau und seine fünf Kinder zu ernähren. „Unser Auto war voll. Wir fuhren über eine kleine Straße in der Provinz Nimrus. Dann machte es Bumm“, sagt er und malt mit seinen Händen eine Explosion in die Luft.

Gulabdscha­n Sultani wird wahrschein­lich nie erfahren, wer die Bombe gelegt hat, die ihm seine Beine abriss. Und er wird nie verstehen, warum es ihn traf. „Es ist die ewige Frage nach dem Warum. Darauf haben wir seit 40 Jahren keine Antwort“, sagt Mohammadi.

„Auf die Frage nach dem Warum haben wir seit 40 Jahren keine Antwort.“

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