Es kann nicht die eine Moral geben
Herr DI Dr. Peter Thuswaldner wirft in seinem Leserbrief „Ein menschlich moralisches Versagen“(SN, 14. 4.) anlässlich des Rücktritts von Rudi Anschober der regierenden ÖVP moralisches Versagen vor. Exemplarisch zusammengefasst ortet er den Moralverlust im Schließen der Balkanroute, der verweigerten Aufnahme von Flüchtlingen aus Griechenland und der Abschiebung von gut integrierten Flüchtlingsfamilien.
Nun ist gegen moralisches Handeln nichts einzuwenden. Es ist aber klar, dass es in pluralistischen Gesellschaften nicht DIE Moral geben kann.
Viel entscheidender ist für mich aber, dass die von Thuswaldner angeführten Beispiele hochkomplexe Situationen darstellen, wo die leidvollen Umstände der Betroffenen einem Zusammenwirken zahlreicher Akteure mit unterschiedlichen Interessen geschuldet sind.
Folglich lässt sich auch die moralische Verantwortung nicht immer eindeutig zuschreiben. So hat etwa im Fall der Abschiebung der georgischen Kinder die beharrliche Fortsetzung des Asylverfahrens (mit zwischenzeitlicher Ausreise der Mutter und mehreren negativen Asylbescheiden) falsche Hoffnungen geweckt und der mediale Druck die Situation zweifellos verschärft. Als nicht weniger problematisch erachte ich die ausschließlich moralische Betrachtungsweise politischer Geschehnisse, der sich alle anderen Teilaspekte (Rechtsstaatlichkeit etc.) bedingungslos unterordnen müssen.
Bei so diffusen Ursachengeflechten nur dem Entscheidungsträger die gesamte moralische Dimension anzulasten ist nicht nur eine Banalisierung des Problems, sondern befördert eine Moralisierung und Verengung der Debatte. Sofern man das politische Geschehen nicht nur mit eindeutigen Gut- und Böse-Zuordnungen kommentieren möchte, hielte ich mehr Nüchternheit für heilsam.
Mag. Dr. Jürgen Steinmair