Was am Betrug bei Wirecard genial ist
Buchautor Felix Holtermann über finanzwirtschaftliche Alchemie und sektenähnliche Verhältnisse. Und welche Rolle spielte die Tatsache, dass drei von vier Vorständen bei Wirecard Österreicher waren?
HELMUT KRETZL
Der Fall Wirecard ist einer der größten Skandale der deutschen Wirtschaftsgeschichte. In einem Buch beschreibt der Journalist Felix Holtermann die Hintergründe des Betrugsfalls, bei dem Österreicher die Fäden zogen.
SN: Wirecard-Asien-Vorstand
Jan Marsalek ist auf der Flucht. Wissen Sie, wo er sich aufhält? Felix Holtermann: Meine letzten Nachrichten an ihn gingen ins Leere. Laut „Handelsblatt“-Informationen ist er auf einem Anwesen westlich von Moskau unter Obhut russischer Geheimdienstkreise.
SN: Steht Wirecard in einer
Reihe mit dem VW-Dieselgate oder Korruption bei Siemens?
Die Fälle sind anders gelagert. Der kleinste gemeinsame Nenner ist, dass im vermeintlichen Land der Regeln, Deutschland, wo alles durchstrukturiert scheint, sehr viel unter der Oberfläche möglich ist – wenn man die richtigen Träume bespielt, Geld und Verbindungen hat.
SN: Ihr Buch heißt „Geniale Betrüger“. Was war genial? Wirecard hat eine deutsche Sehnsucht erfüllt. Deutschland ist ein Land der Old Economy, der erfolgreichen Schraubenhändler und Autobauer. Aber wir haben Angst, die Zukunft zu verpassen. Und da kommt dieses Start-up aus Bayern und sagt, wir kennen uns aus mit künstlicher Intelligenz, Blockchain und der Bezahlung von übermorgen. Obwohl das Geschäftsmodell eigentlich langweilig ist – Wirecard war eine Art PayPal für Unternehmen –, hat man sich als hoch kompetitiver Digitalkonzern dargestellt. Vorstandschef Markus Braun hat etwas vom Geist des Silicon Valley nach Deutschland gebracht. Dieses Bespielen einer deutschen Hoffnung ist Teil der Genialität. Ein anderer ist die technische Genialität, die ich Bilanzbetrug 2.0 nenne. Man schafft es, sämtliche interne und externe Kritiker ruhigzustellen und Wirtschaftsprüfer über Jahre von fantastischen Wachstumsraten von 30 Prozent und mehr zu überzeugen. Bilanzbetrug ist nichts Neues. Aber Wirecard hat es geschafft, außer Geschäften, Umsätzen und Gewinnen erstmals auch Cash zu fälschen über Treuhandkonten.
SN: Wie kann man sich Ihre Arbeitsweise vorstellen?
Die größte Herausforderung war das Aufbrechen der Blackbox Wirecard. Der Konzern hat teils wie eine Sekte funktioniert. Es war sehr schwierig, mit Wirecardianern zusammenzukommen. Die „Financial Times“, speziell Dan McCrum, hat extrem wertvolle Arbeit geleistet. Vor der Pleite haben wir versucht, die offiziellen Zahlen mit Tests auf Inkonsistenzen zu überprüfen. Die Tests haben aber nicht angeschlagen, unter anderem weil auch das Cash gefälscht war. Die Entwicklung der Zahlen war nur fast zu schön, um wahr zu sein. Seit der Pleite gibt es nun eine Fülle an neuen Daten. Uns liegt der komplette EMail-Verkehr des Topmanagements seit 2014 vor. Es ist unglaublich spannend, in das Herz eines untergegangenen Konzerns zu schauen.
SN: Wirecard habe Finanzsystem, Politik und Medien bloßgestellt, schreiben Sie. Wer hat die meisten Fehler gemacht?
Viele hätten besser arbeiten können. Die deutsche Wirtschaftspresse, auch das „Handelsblatt“, hat
Braun 2018 noch gefeiert, als er seinen Konzern in den (deutschen Aktienindex) Dax führte. Besonders heraus stechen die Wirtschaftsprüfer. Wie konnte es sein, dass 2016 aus 250 Mill. Euro an Forderungen, die man nicht richtig erklären konnte, Vermögen wurde? Das ist betriebswirtschaftliche Alchemie. Das Wachstum der gefälschten Cash-Position ging bis zu den 1,9 Mrd. Euro, die sich zuletzt als nicht existent herausstellten. Auch die Finanzaufsicht BaFin hat Kardinalfehler gemacht. Sie hat sich nur die Wirecard-Bank angeschaut und nicht den Gesamtkonzern, der als Tech-Holding gesehen wurde – absurd bei einem Zahlungsdienstleister. Stattdessen ist man gegen die FT-Journalisten vorgegangen und hat ein beispielloses Leerverkaufsverbot für Wirecard-Aktien erlassen. So etwas gab es nur in der Finanzkrise – für alle Banktitel, noch nie für einen einzelnen Konzern.
SN: Die BaFin hat ja selbst mit Wirecard-Aktien gehandelt? BaFin-Mitarbeiter haben mit Aktien und Derivaten auf Wirecard spekuliert – völlig unverständlich, dass das nicht verboten war, weil in der zuständigen Behörde ja Insiderwissen
vorliegt. Dieser Fall zeigt Pars pro toto, dass vieles im Argen liegt.
SN: Inwiefern?
Deutschland gilt als Land der Regeln. Hier wird jedes Dosenpfand auf den Cent abgerechnet, aber am Finanzmarkt ist offenbar alles möglich. Privatanleger haben erwartet, dass bei einer deutschen Bank aus der Nähe von München alles in Ordnung sein muss.
SN: Welche Rolle spielt es, dass drei von vier WirecardVorständen Österreicher waren? Auch der stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende Stefan Klestil, Sohn des früheren Bundespräsidenten, kommt aus Wien. Der hohe Anteil von Österreichern – übrigens auch von Adeligen – bei Wirecard ist erstaunlich, ich habe mir selbst noch keinen Reim darauf gemacht. Braun war auch im Thinktank von Bundeskanzler Sebastian Kurz, der ihn sehr gelobt hat. Vielleicht spielt eine Rolle, dass das Auftreten österreichischer Manager in Deutschland durchaus geschätzt wird, sie gelten als sympathische und gewinnende Gesprächspartner.
SN: Starke Charaktere, ein unerhörter Betrug, eine Flucht: der ideale Stoff für einen Film?
Es gibt schon den ersten Film, einen Doku-Thriller auf TVNow („Der große Fake – die Wirecard-Story“, Anm.). Aber Fiktionalisierungen haben das Problem, dass sie sich zwangsläufig auf zwei, drei, vier handelnde Personen beschränken. Man vergisst dabei leicht, dass es eben nicht nur eine Gangsterbande aus dem Gewerbegebiet zwischen Bahngleis und Autokino war, die für den Skandal verantwortlich ist, dass viele andere dabei kleine und große Rollen spielen, Wirtschaftsprüfer, Aufseher, Staatsanwälte, Politiker und andere, die man im Film aber nicht alle unterbringen kann.
SN: Wie geht die Geschichte
Ihrer Meinung nach weiter?
Zu erwarten ist, dass spätestens im zweiten Halbjahr Anklage erhoben wird. Möglicherweise konzentrieren sich die Ermittler zunächst nur auf einen Teil der gesamten Vorwürfe. Braun sitzt in U-Haft, auch der Dubai-Statthalter und der Chefbuchhalter, gegen andere, die auf freiem Fuß sind, wird ermittelt.
Politisch könnte es nächste Woche im Untersuchungsausschuss in Berlin zum Showdown kommen. Da ist Wirtschaftsminister Peter Altmaier geladen, der für die Wirtschaftsprüferaufsicht verantwortlich ist, Finanzminister Olaf Scholz, der für die BaFin zuständig war und dessen Haus Wirecard sehr freundlich bei der China-Expansion begleitet hat, auch Angela Merkel. ExVerteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg stand mit seiner Beratungsfirma ebenso auf Wirecards Payroll wie etliche ehemalige Ministerpräsidenten und andere Politiker. Das politische Nachspiel ist noch nicht beendet. Die Große Koalition hat das starke Bedürfnis, den Fall für erledigt zu erklären. Sie kann weitere Erkenntnisse vor der Bundestagswahl (im Herbst) nicht brauchen. Juristisch wird sich die Sache Jahre hinziehen, ebenso mögliche Schadenersatzklagen, auch gegen Prüfer von EY.
SN: Wie hoch ist der entstandene Gesamtschaden? 2018 lag der maximale Börsewert von Wirecard bei 24 Mrd. Euro, davon ist fast nichts mehr übrig. Dazu kommt geliehenes Geld in der Gesamtsumme von 3,2 Mrd. Euro, die der Konzern Banken und Anleihegläubigern schuldet. Noch gar nicht berücksichtigt sind unter anderem die Kosten für die Mitarbeiter. Dazu kommt noch ein kaum zu beziffernder politischer Schaden. Wenn man sich hierzulande auf Prüfer, Aufsicht und Politiker nicht verlassen kann, ist das ein Riesenproblem für Start-ups. Die Aktienkultur ist in Deutschland ohnehin unterentwickelt, viele junge Start-ups müssen schon jetzt in die USA ausweichen. Zu erwarten ist, dass jetzt noch weniger Risikokapital nach Deutschland kommt. Der Finanzplatz hat sich bis auf die Knochen blamiert. Dieser Schaden ist irreparabel.
SN: War der Betrug von Anfang an geplant oder hat er sich immer weiter entwickelt?
Wichtig ist: Es gilt für alle Beteiligten die Unschuldsvermutung. Niemand ist rechtskräftig verurteilt, es gibt nur Interpretationen auf Basis aktueller Erkenntnisse und Ermittlungsergebnisse. Wann der Finanzbetrug beginnt, können wir noch nicht endgültig beantworten. Schon jetzt kann man aber sagen, dass Wirecard von Anfang an nicht nur den geraden Weg gegangen ist.
Nach 2000 wurden überteuerte Zahlungen für Pornografie abgerechnet, die viele Nutzer aus Scham bezahlt haben. Es ging weiter mit Onlinepokergeschäften in den USA. Als die verboten wurden, hat man Zahlungen umdeklariert, aus Glücksspielzahlungen wurden Blumenkäufe – das ist Geldwäsche. Später war Wirecard ein großer Abwickler für betrügerische Anlageportale, die wir im „Handelsblatt“aufgedeckt haben. Um die Problemzahlungen zu verschleiern, hat Wirecard das Modell der Drittpartner aufgesetzt. Und am Ende ist dieses Konstrukt bestens geeignet, um den milliardenschweren Bilanzbetrug 2.0 durchzudrücken, bei dem sich ein Viertel der Bilanzsumme als nicht existent herausstellt. Da könnte man schon eine direkte Entwicklung sehen.
SN: Das System wollte betrogen werden, sagen Sie? Deutschland ist das Geldwäscheparadies Europas. Bargeld ist immer noch weitverbreitet. Hier war es möglich, ein Hochhaus in bar zu bezahlen, weil die Geldwäscheaufsicht völlig unfähig ist. Bei Wirecard ist nie jemand wirksam gegen Geldwäsche vorgegangen. Hätte man sich rechtzeitig des Themas angenommen, wäre es wohl gar nicht zum Milliardenbilanzbetrug gekommen. Viele kleine Anleger stehen nun vor dem Nichts.
SN: Werden da noch weitere Skandale ans Licht kommen? Vieles liegt noch im Dunklen. Der Beginn des Betrugs ist noch nicht ganz klar, auch bei möglichen Verbindungen zu Aufsehern und Prüfern oder zu Geheimdiensten ist noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten. War Marsalek nur ein Westentaschen-James-Bond, der sich gebrüstet hat mit seinem Kontakt zu abgehalfterten Agenten? Offenbar steckte mehr dahinter. Die Verbindungen reichten dann offenbar doch bis Minsk und Moskau. Daten aus dem Zahlungsverkehr sind für Geheimdienste extrem interessant.
SN: Betrügereien gibt es überall. Wie „deutsch“ist dieser Fall?
Im Fall Wirecard hat sich die deutsche Wagenburgmentalität als fatal erwiesen. Sogar die BaFin hat von einer angelsächsisch-israelischen Verschwörung gesprochen. Kritik wird als Nestbeschmutzung gesehen, das ist schon sehr spezifisch deutsch.
SN: War Marsalek der große Mastermind, das Zentrum der kriminellen Energie?
Man sollte sich nicht nur auf ihn beschränken. Theoretisch wussten viele Bescheid, das großteils fiktive Asien-Geschäft war im Vergleich zum Europa-Geschäft ja riesengroß. Ist es realistisch, dass Markus Braun in 20 Jahren an der Spitze nichts mitbekommen hat? Einer müsse schuld sein, schreibt Marsalek selbst in einem Chat, und „ich bin die perfekte Wahl“. Viele Akteure sind sehr froh, dass er weg ist und keine Fragen beantwortet. Die Verjährungsfrist für gewerbsmäßigen Bandenbetrug sind zehn Jahre. Herr Marsalek könnte eines Tages zurückkommen, durch deutsche Talkshows tingeln und andere belasten.
Felix Holtermann