Ein Held, ein Triumph, ein Tod
Juri Gagarin, eine Ikone der sowjetischen Propaganda. Sterben sollte der sowjetische Kosmonaut, weil er die Hände nicht vom Steuerknüppel lassen wollte.
Ein kalter Morgen in Tjuratam, dem heutigen Baikonur, es ist der
12. April 1961. Die 39 Meter hohe R-7-Trägerrakete ragt in den blauen Himmel über Kasachstan. Um 9.07 Uhr Ortszeit bringt das 287 Tonnen schwere Geschoss mit einer Schubkraft von 20 Millionen PS die nur 2,40 Meter kleine Raumkapsel „Wostok 1“in den Orbit. An Bord: der russische Oberleutnant der Luftwaffe, Juri Gagarin.
Falls das Bremssystem bei der Landung versagen sollte, muss Gagarin statt knapp zwei Stunden mehrere Tage in einer Umlaufbahn im All ausharren. Wahrscheinlich würde dann seine Geschwindigkeit von 28.260 Stundenkilometern zwar allmählich sinken, für den Abstieg von seiner 327 Kilometer hohen elliptischen Flugbahn bräuchte er aber mindestens eine Woche. Aus diesem Grund hat er sogar Wurst und Konfitüre im Gepäck.
Beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre sorgt eine starke Luftreibung für einen dramatischen Temperaturanstieg, Flammen lodern ums Raumschiff. Durch die gewaltigen Fliehkräfte fällt Gagarin beinahe ins Koma. „Ich raste in einer Wolke aus Feuer zur Erde“, erinnert er sich später. Erst als die Luftschichten dichter werden, stabilisiert sich sein „Feuerball“. Um 10.55 Uhr Ortszeit hat der noch im Flug zum Major beförderte Gagarin wieder festen Boden unter den Füßen. Der 27-Jährige schwebt an seinem Fallschirm einem Acker im WolgaGebiet entgegen. Auf dem Landeplatz nahe Saratow steht heute ein Denkmal.
Schon während der Erdumkreisung hatte der Moskauer Rundfunk die Meldung über die Pioniertat verbreitet. Ursprünglich wollten die Kremlführer den Ausgang von Gagarins Abenteuer abwarten, aber im Überschwang patriotischer Gefühle wurde die Nachricht nicht länger zurückgehalten. Angeblich hatte man drei verschiedene Bulletins vorbereitet, je nach Ausgang des Unternehmens:
feierlich für einen Erfolg, als Hilferuf für den Fall einer Notlandung auf fremdem Territorium und im Trauerton für ein tragisches Ende.
Ab sofort ist Gagarin der neue Superstar der UdSSR. Nach dem kosmischen Helden werden Neugeborene, Straßen und auch ein Mondkrater benannt, er wird auf russischen Münzen und Briefmarken verewigt, am Lenin-Prospekt in Moskau ein gewaltiges, 40 Meter hohes Denkmal errichtet.
Der neuerliche Erfolg der sowjetischen Raumfahrt markiert zur Hochzeit des Kalten Krieges eine weitere schwere Niederlage der Amerikaner auf dem Weg ins All. Wieder haben die Sowjets beim Wettlauf in den Weltraum die Nase vorn. Bereits dreieinhalb Jahre zuvor hatte der „Sputnik-Schock“die USA erschüttert, als der russische Satellit aus dem Weltall piepste. Im Ostblock keimt nun gar die Hoffnung auf, man könne den Westen technologisch und wirtschaftlich überholen. „Kommunismus verwirklicht kühnste Träume der Menschheit“, titelt das Zentralorgan der DDR, das „Neue Deutschland“, in einem Extrablatt. Der Amerikaner Alan Shepard startet erst gut drei Wochen später, am 5. Mai 1961, in seiner auf den Namen „Freedom 7“getauften Mercury-Raumkapsel ins All.
Eigentlich will die Kadettenakademie Gagarin wegen seiner Größe von nur 1,65 Metern gar nicht zum Militärflieger ausbilden. Um an alle Instrumente heranzureichen, braucht er ein Spezialkissen. Doch dieses Manko wird später zu seinem Vorteil. Chefkonstrukteur Sergej Koroljow, „Vater“des sowjetischen Raketenbaus, sucht nach jungen Piloten, die unter 170 Zentimeter groß und sehr leicht sind, um einen Flug in der engen „Wostok“Kapsel durchzustehen. Schließlich wird Gagarin aus 20 Kandidaten ausgewählt. Beim Training zeigt
German Titow, der spätere Pilot von „Wostok 2“, die besseren Ergebnisse. Die Staatsführung will ihn aber nicht, weil sein Vorname in russischen Ohren für einen Pionier im All zu deutsch klingt.
Gagarin wird nach seinem Raumflug als Inbegriff des Fortschritts um die Welt gereicht. Der neue Sympathieträger der östlichen Supermacht kehrt unter frenetischem Jubel zunächst nach Moskau zurück. Am 1. Mai während der obligatorischen Parade steht er neben Parteichef Nikita Chruschtschow auf der Ehrentribüne am Lenin-Mausoleum. Eine regelrechte Tournee führt den ersten Kosmonauten nochmals um die ganze Welt. Der stets sympathisch auftretende Offizier trifft die Mächtigen und Prominenten: Queen Elizabeth II., Filmstar Gina Lollobrigida, Kubas Staatsführer Fidel Castro und Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser. „Wie sieht sie denn aus, unsere Erde?“, lautet die am häufigsten gestellte Frage. „Schön“, sagt er dann.
Die früher eher plumpe russische Propaganda gehört schlagartig der Vergangenheit an. Gagarin mit seinem einnehmenden Lächeln verkörpert das neue Gesicht der Sowjetunion, jung, attraktiv und authentisch.
Doch trotz aller Ehrungen fühlt sich das umschwärmte Idol weiterhin als Junge vom Land, mit dem plötzlichen Ruhm kann der gefeierte Nationalheld nur schwer umgehen. Die Verlockungen – Affären und übermäßiger Wodkagenuss – sind einfach zu groß. Mit der Hilfe seiner Frau Valentina und seiner beiden Töchter fängt er sich aber wieder. Der Popularität muss er einen weiteren Tribut zollen: Der sowjetische Geheimdienst KGB observiert ihn rund um die Uhr, sein Telefon wird abgehört, in Wohnung und Datscha sind Wanzen installiert.
Gagarin will nicht länger nur Grußonkel sein, er wünscht sich sein altes Leben als Flieger zurück. Die Sowjetunion möchte jedoch auf ihren Vorzeigehelden nicht verzichten. Sie befördert ihn 1963 zum Kommandeur der sowjetischen Kosmonautengruppe. Er schafft es schließlich 1967, Ersatzmann für die „Sojus 1“-Mission zu werden. Als der Flug im Desaster endet und sein Kollege Wladimir Komarow bei der Landung stirbt, wird Gagarin auf Weisung von „oben“endgültig von der Kosmonauten-Liste gestrichen.
Doch so leicht gibt der leidenschaftliche Flieger nicht auf. Gegen alle Widerstände setzt er durch, zumindest Flugzeuge testen zu dürfen. Am 27. März 1968 bricht er in einer MIG-15 mit dem erfahrenen Piloten Wladimir Serjegin zu einem gewöhnlichen Trainingsflug auf. Um 10.31 Uhr zerschellt der Jet rund 100 Kilometer nordöstlich von Moskau. Gagarin kommt ums Leben.
Die genauen Umstände des Absturzes kommen erst 1985 ans Licht: Offenbar wurden beim Testflug Sicherheitsstandards nicht eingehalten, ein Überschallflieger – doppelt so groß und schnell wie die die MIG-15 – kurvte an Gagarins Maschine haarscharf vorbei, durch die Luftturbulenzen geriet der ins Trudeln und konnte den freien Fall nicht mehr abfangen.
Die Nachricht von Gagarins Tod schockt die Nation. Am 30. März 1968 wird seine Urne in einem Staatsbegräbnis erster Klasse an der Kremlmauer beigesetzt. Eine solche Trauerfeier habe es seit Stalin nicht mehr gegeben, erzählt man sich.