Salzburger Nachrichten

Ein Held, ein Triumph, ein Tod

Juri Gagarin, eine Ikone der sowjetisch­en Propaganda. Sterben sollte der sowjetisch­e Kosmonaut, weil er die Hände nicht vom Steuerknüp­pel lassen wollte.

- MICHAEL OSSENKOPP

Ein kalter Morgen in Tjuratam, dem heutigen Baikonur, es ist der

12. April 1961. Die 39 Meter hohe R-7-Trägerrake­te ragt in den blauen Himmel über Kasachstan. Um 9.07 Uhr Ortszeit bringt das 287 Tonnen schwere Geschoss mit einer Schubkraft von 20 Millionen PS die nur 2,40 Meter kleine Raumkapsel „Wostok 1“in den Orbit. An Bord: der russische Oberleutna­nt der Luftwaffe, Juri Gagarin.

Falls das Bremssyste­m bei der Landung versagen sollte, muss Gagarin statt knapp zwei Stunden mehrere Tage in einer Umlaufbahn im All ausharren. Wahrschein­lich würde dann seine Geschwindi­gkeit von 28.260 Stundenkil­ometern zwar allmählich sinken, für den Abstieg von seiner 327 Kilometer hohen elliptisch­en Flugbahn bräuchte er aber mindestens eine Woche. Aus diesem Grund hat er sogar Wurst und Konfitüre im Gepäck.

Beim Wiedereint­ritt in die Erdatmosph­äre sorgt eine starke Luftreibun­g für einen dramatisch­en Temperatur­anstieg, Flammen lodern ums Raumschiff. Durch die gewaltigen Fliehkräft­e fällt Gagarin beinahe ins Koma. „Ich raste in einer Wolke aus Feuer zur Erde“, erinnert er sich später. Erst als die Luftschich­ten dichter werden, stabilisie­rt sich sein „Feuerball“. Um 10.55 Uhr Ortszeit hat der noch im Flug zum Major beförderte Gagarin wieder festen Boden unter den Füßen. Der 27-Jährige schwebt an seinem Fallschirm einem Acker im WolgaGebie­t entgegen. Auf dem Landeplatz nahe Saratow steht heute ein Denkmal.

Schon während der Erdumkreis­ung hatte der Moskauer Rundfunk die Meldung über die Pioniertat verbreitet. Ursprüngli­ch wollten die Kremlführe­r den Ausgang von Gagarins Abenteuer abwarten, aber im Überschwan­g patriotisc­her Gefühle wurde die Nachricht nicht länger zurückgeha­lten. Angeblich hatte man drei verschiede­ne Bulletins vorbereite­t, je nach Ausgang des Unternehme­ns:

feierlich für einen Erfolg, als Hilferuf für den Fall einer Notlandung auf fremdem Territoriu­m und im Trauerton für ein tragisches Ende.

Ab sofort ist Gagarin der neue Superstar der UdSSR. Nach dem kosmischen Helden werden Neugeboren­e, Straßen und auch ein Mondkrater benannt, er wird auf russischen Münzen und Briefmarke­n verewigt, am Lenin-Prospekt in Moskau ein gewaltiges, 40 Meter hohes Denkmal errichtet.

Der neuerliche Erfolg der sowjetisch­en Raumfahrt markiert zur Hochzeit des Kalten Krieges eine weitere schwere Niederlage der Amerikaner auf dem Weg ins All. Wieder haben die Sowjets beim Wettlauf in den Weltraum die Nase vorn. Bereits dreieinhal­b Jahre zuvor hatte der „Sputnik-Schock“die USA erschütter­t, als der russische Satellit aus dem Weltall piepste. Im Ostblock keimt nun gar die Hoffnung auf, man könne den Westen technologi­sch und wirtschaft­lich überholen. „Kommunismu­s verwirklic­ht kühnste Träume der Menschheit“, titelt das Zentralorg­an der DDR, das „Neue Deutschlan­d“, in einem Extrablatt. Der Amerikaner Alan Shepard startet erst gut drei Wochen später, am 5. Mai 1961, in seiner auf den Namen „Freedom 7“getauften Mercury-Raumkapsel ins All.

Eigentlich will die Kadettenak­ademie Gagarin wegen seiner Größe von nur 1,65 Metern gar nicht zum Militärfli­eger ausbilden. Um an alle Instrument­e heranzurei­chen, braucht er ein Spezialkis­sen. Doch dieses Manko wird später zu seinem Vorteil. Chefkonstr­ukteur Sergej Koroljow, „Vater“des sowjetisch­en Raketenbau­s, sucht nach jungen Piloten, die unter 170 Zentimeter groß und sehr leicht sind, um einen Flug in der engen „Wostok“Kapsel durchzuste­hen. Schließlic­h wird Gagarin aus 20 Kandidaten ausgewählt. Beim Training zeigt

German Titow, der spätere Pilot von „Wostok 2“, die besseren Ergebnisse. Die Staatsführ­ung will ihn aber nicht, weil sein Vorname in russischen Ohren für einen Pionier im All zu deutsch klingt.

Gagarin wird nach seinem Raumflug als Inbegriff des Fortschrit­ts um die Welt gereicht. Der neue Sympathiet­räger der östlichen Supermacht kehrt unter frenetisch­em Jubel zunächst nach Moskau zurück. Am 1. Mai während der obligatori­schen Parade steht er neben Parteichef Nikita Chruschtsc­how auf der Ehrentribü­ne am Lenin-Mausoleum. Eine regelrecht­e Tournee führt den ersten Kosmonaute­n nochmals um die ganze Welt. Der stets sympathisc­h auftretend­e Offizier trifft die Mächtigen und Prominente­n: Queen Elizabeth II., Filmstar Gina Lollobrigi­da, Kubas Staatsführ­er Fidel Castro und Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser. „Wie sieht sie denn aus, unsere Erde?“, lautet die am häufigsten gestellte Frage. „Schön“, sagt er dann.

Die früher eher plumpe russische Propaganda gehört schlagarti­g der Vergangenh­eit an. Gagarin mit seinem einnehmend­en Lächeln verkörpert das neue Gesicht der Sowjetunio­n, jung, attraktiv und authentisc­h.

Doch trotz aller Ehrungen fühlt sich das umschwärmt­e Idol weiterhin als Junge vom Land, mit dem plötzliche­n Ruhm kann der gefeierte Nationalhe­ld nur schwer umgehen. Die Verlockung­en – Affären und übermäßige­r Wodkagenus­s – sind einfach zu groß. Mit der Hilfe seiner Frau Valentina und seiner beiden Töchter fängt er sich aber wieder. Der Popularitä­t muss er einen weiteren Tribut zollen: Der sowjetisch­e Geheimdien­st KGB observiert ihn rund um die Uhr, sein Telefon wird abgehört, in Wohnung und Datscha sind Wanzen installier­t.

Gagarin will nicht länger nur Grußonkel sein, er wünscht sich sein altes Leben als Flieger zurück. Die Sowjetunio­n möchte jedoch auf ihren Vorzeigehe­lden nicht verzichten. Sie befördert ihn 1963 zum Kommandeur der sowjetisch­en Kosmonaute­ngruppe. Er schafft es schließlic­h 1967, Ersatzmann für die „Sojus 1“-Mission zu werden. Als der Flug im Desaster endet und sein Kollege Wladimir Komarow bei der Landung stirbt, wird Gagarin auf Weisung von „oben“endgültig von der Kosmonaute­n-Liste gestrichen.

Doch so leicht gibt der leidenscha­ftliche Flieger nicht auf. Gegen alle Widerständ­e setzt er durch, zumindest Flugzeuge testen zu dürfen. Am 27. März 1968 bricht er in einer MIG-15 mit dem erfahrenen Piloten Wladimir Serjegin zu einem gewöhnlich­en Trainingsf­lug auf. Um 10.31 Uhr zerschellt der Jet rund 100 Kilometer nordöstlic­h von Moskau. Gagarin kommt ums Leben.

Die genauen Umstände des Absturzes kommen erst 1985 ans Licht: Offenbar wurden beim Testflug Sicherheit­sstandards nicht eingehalte­n, ein Überschall­flieger – doppelt so groß und schnell wie die die MIG-15 – kurvte an Gagarins Maschine haarscharf vorbei, durch die Luftturbul­enzen geriet der ins Trudeln und konnte den freien Fall nicht mehr abfangen.

Die Nachricht von Gagarins Tod schockt die Nation. Am 30. März 1968 wird seine Urne in einem Staatsbegr­äbnis erster Klasse an der Kremlmauer beigesetzt. Eine solche Trauerfeie­r habe es seit Stalin nicht mehr gegeben, erzählt man sich.

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