Alte Telefonzellen werden zur Bibliothek
In Lockdown-Zeiten wurden die privaten Bücherschränke aufgeräumt, jetzt florieren Tauschplätze für Bücher wie nie zuvor.
In Lockdown-Zeiten wurden die privaten Bücherschränke aufgeräumt, jetzt florieren Tauschplätze wie nie zuvor.
SALZBURG. Kaum ist Sarah Kirsch da, ist sie schon wieder weg. Auch um Stefan Zweig, Umberto Eco, Agatha Christie, Hugo Portisch, Mira Lobe und Stephen Hawking gibt es ein wahres Griss. Der Gratis-Büchertausch im öffentlichen Raum floriert derzeit mancherorts wie nie zuvor, die Coronapandemie scheint die Leselust in der Bevölkerung befeuert zu haben. „In den Regalen, die ich nutze, gibt es einen permanenten Wechsel der Bücher, das ist schon ziemlich erstaunlich“, sagt die Grazer Literaturmanagerin Doris Lind. Ihre Erklärung: „Die Coronazeit bedeutet Vereinzelung, viele begeben sich auf einen Rückzug und haben das Bücherlesen wieder entdeckt.“
Der Boom in Sachen Tauschbücher habe in der ersten LockdownPhase begonnen: „Als alle Buchläden und Büchereien zu waren, sind die einen ins Internet ausgewichen, die anderen haben sich gebrauchte Bücher aus ihrer nächsten Umgebung besorgt.“Will heißen: von der Straße. In Salzburg existieren sogenannte „Büchertankstellen“in Form von wetterfesten Telefonzellen seit Mai 2012. Eröffnet wurden sie im Stadtteil Lehen vom Salzburger Literaturhaus und der ARGEkultur im Nonntal. Mittlerweile ist die
Zahl der „Büchertankstellen“auf fünf angewachsen, auch in zahlreichen Salzburger Gemeinden wurden aus verwaisten Telefonzellen üppig bestückte Literaturorte, die unter folgender Devise stehen: „Ausleihen, hergeben, tauschen, nehmen.“„Wir haben kürzlich drei Kisten mit Büchern einsortiert, die waren alle ganz schnell weg“, berichtet Nina Zuparic vom Literaturhaus Salzburg. Vor allem ältere Menschen seien Stammkunden in den Telefonzellen. An einer Aufstockung der „Büchertankstellen“sei aber vorerst nicht gedacht.
Der schwunghafte Handel mit gebrauchten Büchern sei auch dem Umstand geschuldet, dass in Lockdown-Zeiten viele Menschen ihre Bücherregale aufgeräumt und ausgemistet hätten, betont Doris Lind: „Man wollte Platz schaffen, Ballast loswerden. Dieser Trend zum Aufräumen dauert bei vielen noch an.“
Welche Bücher die eigene Wohnung verlassen müssen? „Geschenke, mit denen man nichts anfangen kann, Bücher, über die man enttäuscht war, und solche, bei denen man sich sicher ist, sie nie wieder lesen zu wollen.“Nachsatz der Literaturmanagerin: „Lieblingsbücher gibt keiner her. Auch nicht in Coronazeiten.“
Lind bestätigt, was viele, die öffentliche Bücher-Umschlagplätze benutzen, gut kennen: „Leute, die Bücher abgeben, sehen immer wieder nach, ob ,ihre‘ Bücher schon mitgenommen worden sind.“Die Grazerin, die österreichweit Hotelbibliotheken organisiert hat, registriert auch eine Zunahme improvisierter Tauschplätze: „Ob auf der Fensterbank im Stiegenhaus, auf den Postkästen oder einem Campingtisch im Hausflur: Überall können Bücher ausgetauscht werden.“Manche dieser Orte würden aber, sagt Lind, auch ebenso schnell wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht sind.
„Büchertankstellen“und offene Bücherregale sind rund um die Uhr geöffnet und ermöglichen – da auch Zeitschriften und Magazine meistens nicht verpönt sind – so manche Entdeckung. Etwa wenn der Nachbar seinen Keller aufgeräumt und ganze Jahrgänge von „Der Spiegel“, „Spex“, „Musikexpress“oder „Autorevue“der Öffentlichkeit zur freien Entnahme zur Verfügung stellt. Nicht nur Leseratten, auch Schnäppchenjäger ziehen ihre Runden, kann doch so manches Fundstück via Internet Geld einbringen.
Bei den „offenen Bücherschränken“in Wien werden neu eingestellte Bücher aus diesem Grund abgestempelt. So wird sichtbar gemacht, dass die Exemplare nicht kommerziell genutzt werden dürfen. Frank Gassner versteht sein 2010 ins Leben gerufene Projekt aber nicht als „Leseinitiative“: „Die Bücher sind hier lediglich Mittel. Der Zweck ist ein funktionierendes Beispiel von Warenaustausch außerhalb des Geldkreislaufs.“So entstehen „Orte der Kommunikation außerhalb eines Konsumraums“, öffentliche Flächen werden durch eine nicht kommerzielle Initiative besetzt.