Zwei Atemlose mit einem Bier durch die Nacht
Beim Bier wachsen Geschichten. So ist das nicht nur in Tschechien. Von dort aber kann es Jaroslav Rudiš mit Sicherheit berichten.
„Wir werden viel mit Zügen fahren“, sagt Jaroslav Rudiš zum Einstieg. Und hinter seinem Rednerpult projiziert er an die Wand eine Landkarte, eine Karte des Eisenbahnnetzes der habsburgisch regierten Länder um 1911. So eine Karte hängt auch über seinem Arbeitstisch. „Ich schaue oft auf diese Karte und denke nach, wie es wäre, in den nächsten Zug zu steigen.“Denn die meisten Gleise gibt es noch. Und wenn er einsteigt, dann geht es bei Rudiš nicht einfach nur auf eine geografische Reise, sondern auch immer auf eine historische. Und so verbindet er auf dieser Fahrt Zeiten und Orte – und sie verbinden sich durch die Geschichten, die Rudiš aufschnappt.
Rudiš, 1972 geborener Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker – und als solcher einer der wichtigsten aus seiner Heimat –, schweift im ersten Teil der Poetikvorlesung im Stefan-Zweig-Zentrum durch seine ersten Jahre, bevor er 2002 mit „Der Himmel unter Berlin“aus dem Nichts zu einer neuen Literaturstimme Tschechiens geworden war. Das kam ihm selbst auch zu überraschend. „Plötzlich war ich ein Schriftsteller und wusste nicht, wie ich weitermachen soll.“Aber er ist ein guter Zuhörer. Und wie der erste Teil der Poetikvorlesung, die nur online zu erleben ist, zeigte, ist er auch ein begeisternder Erzähler. An drei Abenden ist er in Salzburg für die Poetikvorlesung zu Gast.
Rudiš ist Tscheche. Er schreibt aber auch auf Deutsch. Seine Geschichten kommen oft vom Zuhören in Zwischenwelten, in Wirtshäusern, an Bahnhöfen, in der UBahn oder in Hotels. So ist das nicht bloß in Tschechien. Aber von dort stammt er und kommt als Wanderer zwischen Welten immer wieder dorthin zurück. In den Norden, ins „Český ráj“(Böhmisches Paradies), wie die Gegend genannt wird.
Damit erfüllt er mehrere Ideen, die als Grundlage zur Einladung zur Stefan-Zweig-Poetikvorlesung dienen. Es ist die zwölfte Auflage dieser Veranstaltung, bei der jemand zu Gast ist, für den – ganz im Sinn von Zweig – „eine europäische Idee ein zentraler Motor ist“, so Mitorganisatorin Christa Gürtler. Es gehe darum, dass „Vermittlung zwischen Kulturen ein zentraler Aspekt der Arbeit“sei. Rudiš sieht sich als „Sammler und Weitererzähler“. Darüber redet er. Und er redet einleuchtend und unterhaltsam darüber, dass „so viele Verbindungen immer noch da sind“. Da sind nicht nur die Gleise der Eisenbahn gemeint oder die alten Bahnhöfe oder Hotels, die von allein Geschichten und damit auch Geschichte erzählen. Da ist etwa auch die schwere Erinnerung in seiner Heimat an eine politische Vergangenheit, wegen der „manche Straßen in einem Jahrhundert fünf Mal einen anderen Namen hatten“.
„Was wir waren, die Welt hinter uns, die Geschichten, die wir mitschleppen“, das macht ihn und seine Literatur aus. Und selbst der Nebel im Binnenklima über dem kleinen Tal, in dem Liberec liegt, wo er acht Jahre lang lebte und studierte, wird dann eine Metapher, wie „das Kleine manchmal groß und das Große manchmal klein wird“, wie auch das, „was wir nicht sehen können, aber doch da ist und Menschen ausmacht“. Da sei der Nebel in Liberec,
einst unter dem Namen Reichenberg Zentrum der deutschsprachigen Teile Böhmens, wie die Vergangenheit. Man sehe sie nicht immer, aber „sie kommt, tut uns weh und verschwindet wieder“.
Erstaunt sei er in Hinblick auf das alte Eisenbahnnetz, „wie einfach und schnell“man reisen kann. Wer um sieben in der Früh auf dem kleinen Bahnhof seiner Heimatstadt Lomnice nad Popelkou aufbreche, könne knapp vor Mitternacht in Triest sein. Und ganz recht sind ihm dann die langsamen Züge. „Ich bin fürs Langsamfahren, da hat man etwas von der Landschaft.“Dann bleiben Bilder und Geschichte, die zu Novellen und Romanen werden.
Dass er eher einer fürs Schlendern ist, zeigt sich auch in seiner Arbeit mit dem österreichischen Illustrator Nicolas Mahler. „Nachtgestalten“heißt die Graphic Novel, die am Dienstag beim Salzburger Literaturforum Leselampe präsentiert wurde. Schon mit den Geschichten von Alois Nebel entstand einst gemeinsam mit dem Musiker Jaromír99, mit dem Rudiš auch zwei Bands hat, eine Comicserie, mit der Rudiš neben seiner Prosa und Theaterliteratur erfolgreich war. Mit Mahler geht es nun eine Nacht lang durch Prag.
Da strawanzen zwei, die durchaus an die beiden Schöpfer des Werks erinnern, auf der Suche nach noch einem Bier und also noch einer Geschichte durch eine Großstadtnacht. Ein langer Dünner und ein kurzer Dicker erleben die Welt, ihre Welt. Sie wissen viel von dieser Welt. In knappen Dialogen wird das bald klar. Und noch mehr ahnen die beiden. Das macht ihnen das Nachdenken über das Leben, über große Dinge und kleine Vorkommnisse aber nicht leichter. Also schwingt viel Melancholie mit, aber auch viel Weisheit, wie sie dann erwacht, wenn man vielleicht gar nicht mehr will als noch ein Bier und sich dabei eine Welt öffnet. Berührend ist das – und auch witzig. Rudiš habe auf gemeinsamen Nachttouren seine Geschichten erzählt, er habe nur mehr „den Gesprächsfluss ins Bild bringen“müssen, sagt Mahler.
„Ich bin für das langsame Fahren.“
Jaroslav Rudiš, Schriftsteller