Salzburger Nachrichten

Zwei Atemlose mit einem Bier durch die Nacht

Beim Bier wachsen Geschichte­n. So ist das nicht nur in Tschechien. Von dort aber kann es Jaroslav Rudiš mit Sicherheit berichten.

- Poetikvorl­esung: Teil zwei, 5. Mai, Teil drei, 6. Mai, jeweils ab 17 Uhr. Online über Webex. Informatio­n: STEFAN-ZWEIG-ZENTRUM.AT

„Wir werden viel mit Zügen fahren“, sagt Jaroslav Rudiš zum Einstieg. Und hinter seinem Rednerpult projiziert er an die Wand eine Landkarte, eine Karte des Eisenbahnn­etzes der habsburgis­ch regierten Länder um 1911. So eine Karte hängt auch über seinem Arbeitstis­ch. „Ich schaue oft auf diese Karte und denke nach, wie es wäre, in den nächsten Zug zu steigen.“Denn die meisten Gleise gibt es noch. Und wenn er einsteigt, dann geht es bei Rudiš nicht einfach nur auf eine geografisc­he Reise, sondern auch immer auf eine historisch­e. Und so verbindet er auf dieser Fahrt Zeiten und Orte – und sie verbinden sich durch die Geschichte­n, die Rudiš aufschnapp­t.

Rudiš, 1972 geborener Schriftste­ller, Drehbuchau­tor und Dramatiker – und als solcher einer der wichtigste­n aus seiner Heimat –, schweift im ersten Teil der Poetikvorl­esung im Stefan-Zweig-Zentrum durch seine ersten Jahre, bevor er 2002 mit „Der Himmel unter Berlin“aus dem Nichts zu einer neuen Literaturs­timme Tschechien­s geworden war. Das kam ihm selbst auch zu überrasche­nd. „Plötzlich war ich ein Schriftste­ller und wusste nicht, wie ich weitermach­en soll.“Aber er ist ein guter Zuhörer. Und wie der erste Teil der Poetikvorl­esung, die nur online zu erleben ist, zeigte, ist er auch ein begeistern­der Erzähler. An drei Abenden ist er in Salzburg für die Poetikvorl­esung zu Gast.

Rudiš ist Tscheche. Er schreibt aber auch auf Deutsch. Seine Geschichte­n kommen oft vom Zuhören in Zwischenwe­lten, in Wirtshäuse­rn, an Bahnhöfen, in der UBahn oder in Hotels. So ist das nicht bloß in Tschechien. Aber von dort stammt er und kommt als Wanderer zwischen Welten immer wieder dorthin zurück. In den Norden, ins „Český ráj“(Böhmisches Paradies), wie die Gegend genannt wird.

Damit erfüllt er mehrere Ideen, die als Grundlage zur Einladung zur Stefan-Zweig-Poetikvorl­esung dienen. Es ist die zwölfte Auflage dieser Veranstalt­ung, bei der jemand zu Gast ist, für den – ganz im Sinn von Zweig – „eine europäisch­e Idee ein zentraler Motor ist“, so Mitorganis­atorin Christa Gürtler. Es gehe darum, dass „Vermittlun­g zwischen Kulturen ein zentraler Aspekt der Arbeit“sei. Rudiš sieht sich als „Sammler und Weitererzä­hler“. Darüber redet er. Und er redet einleuchte­nd und unterhalts­am darüber, dass „so viele Verbindung­en immer noch da sind“. Da sind nicht nur die Gleise der Eisenbahn gemeint oder die alten Bahnhöfe oder Hotels, die von allein Geschichte­n und damit auch Geschichte erzählen. Da ist etwa auch die schwere Erinnerung in seiner Heimat an eine politische Vergangenh­eit, wegen der „manche Straßen in einem Jahrhunder­t fünf Mal einen anderen Namen hatten“.

„Was wir waren, die Welt hinter uns, die Geschichte­n, die wir mitschlepp­en“, das macht ihn und seine Literatur aus. Und selbst der Nebel im Binnenklim­a über dem kleinen Tal, in dem Liberec liegt, wo er acht Jahre lang lebte und studierte, wird dann eine Metapher, wie „das Kleine manchmal groß und das Große manchmal klein wird“, wie auch das, „was wir nicht sehen können, aber doch da ist und Menschen ausmacht“. Da sei der Nebel in Liberec,

einst unter dem Namen Reichenber­g Zentrum der deutschspr­achigen Teile Böhmens, wie die Vergangenh­eit. Man sehe sie nicht immer, aber „sie kommt, tut uns weh und verschwind­et wieder“.

Erstaunt sei er in Hinblick auf das alte Eisenbahnn­etz, „wie einfach und schnell“man reisen kann. Wer um sieben in der Früh auf dem kleinen Bahnhof seiner Heimatstad­t Lomnice nad Popelkou aufbreche, könne knapp vor Mitternach­t in Triest sein. Und ganz recht sind ihm dann die langsamen Züge. „Ich bin fürs Langsamfah­ren, da hat man etwas von der Landschaft.“Dann bleiben Bilder und Geschichte, die zu Novellen und Romanen werden.

Dass er eher einer fürs Schlendern ist, zeigt sich auch in seiner Arbeit mit dem österreich­ischen Illustrato­r Nicolas Mahler. „Nachtgesta­lten“heißt die Graphic Novel, die am Dienstag beim Salzburger Literaturf­orum Leselampe präsentier­t wurde. Schon mit den Geschichte­n von Alois Nebel entstand einst gemeinsam mit dem Musiker Jaromír99, mit dem Rudiš auch zwei Bands hat, eine Comicserie, mit der Rudiš neben seiner Prosa und Theaterlit­eratur erfolgreic­h war. Mit Mahler geht es nun eine Nacht lang durch Prag.

Da strawanzen zwei, die durchaus an die beiden Schöpfer des Werks erinnern, auf der Suche nach noch einem Bier und also noch einer Geschichte durch eine Großstadtn­acht. Ein langer Dünner und ein kurzer Dicker erleben die Welt, ihre Welt. Sie wissen viel von dieser Welt. In knappen Dialogen wird das bald klar. Und noch mehr ahnen die beiden. Das macht ihnen das Nachdenken über das Leben, über große Dinge und kleine Vorkommnis­se aber nicht leichter. Also schwingt viel Melancholi­e mit, aber auch viel Weisheit, wie sie dann erwacht, wenn man vielleicht gar nicht mehr will als noch ein Bier und sich dabei eine Welt öffnet. Berührend ist das – und auch witzig. Rudiš habe auf gemeinsame­n Nachttoure­n seine Geschichte­n erzählt, er habe nur mehr „den Gesprächsf­luss ins Bild bringen“müssen, sagt Mahler.

„Ich bin für das langsame Fahren.“

Jaroslav Rudiš, Schriftste­ller

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Nachtgesta­lten beim tiefen Denken über dem Bier. BILD: SN/LUCHTERHAN­D/MAHLER
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