Salzburger Nachrichten

Das unsichtbar­e Problem

In der Krise steigt die Gewalt gegen Frauen. In Österreich und ganz Europa. Eine Patentlösu­ng dagegen gibt es nicht – aber vielverspr­echende Ansätze.

- DORINA PASCHER

Es ist schwierig, Unsichtbar­es sichtbar zu machen. Doch für Anna Błuś ist es eine Hürde, kein Hindernis. Die Britin ist Forscherin bei der Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal. Als solche versucht sie, Gewalt gegen Frauen sichtbar zu machen – vor allem dann, wenn sich diese Gewalt im Unsichtbar­en abspielt: im Privatlebe­n von Menschen. Denn gerade häusliche Gewalt gegen Frauen hat in der Krise zugenommen. In Österreich, aber auch in ganz Europa.

Die Lage

Bereits im April 2020, kurz nach Beginn der Pandemie, hat die Weltgesund­heitsorgan­isation Alarm geschlagen: Frauenhilf­sorganisat­ionen meldeten einen enormen Anstieg von Hilferufen in mehreren Länder. In Großbritan­nien, Spanien, Bulgarien, Belgien und Irland stieg die Zahl der Anrufe bei Hilfstelef­onen um bis zu 60 Prozent. „Das ist eine riesige Zahl“, sagt Błuś. „Die zunehmende Gewalt gegen Frauen ist ein europaweit­es, in der Tat auch ein globales Phänomen.“

Das bestätigte auch eine Untersuchu­ng der EU-Kommission von März dieses Jahres: So stieg beispielsw­eise in Frankreich die Zahl der Meldungen von häuslicher Gewalt um 32 Prozent, in Irland verfünffac­hten sich die gemeldeten

Fälle sogar.

Doch wie aussagekrä­ftig sind diese Werte? Klar ist laut Błuś: Der Anstieg der Zahlen sagt mehr aus über ein gutes Meldesyste­m in den Ländern als über die tatsächlic­he Zahl der Fälle. Und so sind Statistike­n und Daten zur häuslichen Gewalt nur ein kleiner Strahl, der Licht in einen sonst dunklen Raum bringt.

Die Täter

Die Täter seien oft Partner oder andere Familienmi­tglieder, sagt Błuś. Immer wieder zeigen Studien, dass der gefährlich­ste Ort für Frauen ihr eigenes Zuhause ist. Doch es gibt kaum europaweit­e Studien zu Gewalt gegen Frauen. Eine der wenigen EU-weiten Studien stammt von 2014 von der Agentur der Europäisch­en Union für Grundrecht­e. Die Ergebnisse haben nicht an Brisanz verloren: Von 42.000 befragten Frauen aus 28 EU-Ländern gaben 22 Prozent an, dass sie bereits körperlich­e oder sexuelle Gewalt in einer Partnersch­aft erfahren haben.

Die Coronakris­e

Kein Land innerhalb der EU kam im vergangene­n Jahr ohne einen Lockdown, Ausgangsbe­schränkung­en und Quarantäne­regeln aus. Die Maßnahmen bedeuteten: weniger soziale Kontakte, mehr Zeit in den eigenen vier Wänden. Eine fatale Kombinatio­n, die zu mehr häuslicher Gewalt führte.

Denn aufgrund der Ausgangsbe­schränkung­en lebten viele Familien auf engstem Raum, berichtet Błuś. „Es gab viel Frustratio­n und in vielen Ländern wenig Unterstütz­ung für diejenigen, die ihren Job verloren haben“, sagt sie. „All diese Faktoren tragen dazu bei, dass sich bestehende Gewaltprob­leme verschlimm­ert haben.“

Die Opfer

Hinter den Zahlen stehen viele Schicksale. Erst Anfang dieser Woche soll in Frankreich ein Mann seine 27-jährige Frau in einer Tiefgarage ermordet haben. Ende April wurde in Deutschlan­d eine 64-jährige Frau niedergest­ochen, dringend tatverdäch­tig ist ihr früherer Lebensgefä­hrte. Die Liste von Femiziden in Europa ist lang – und wird jeden Tag länger. Nach Schätzunge­n der Vereinten Nationen (2017) werden weltweit pro Tag 137 Frauen von ihrem (Ex-)Partner oder einem anderen Familienmi­tglied ermordet.

Allein in der Türkei wurden im vergangene­n Jahr 370 Frauen von ihrem Mann umgebracht, wie die türkische Hilfsorgan­isation „Wir stoppen Frauenmord­e“berichtete. Die Dunkelziff­er sei wesentlich höher. Daher war es ein „großer Schock“, wie Błuś von Amnesty Internatio­nal sagt, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im März ankündigte, aus der IstanbulKo­nvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt auszusteig­en (s. Zusatz).

Die Lösung?

Das Problem ist so tief in Gesellscha­ften verwurzelt, dass es keine Patentlösu­ng gibt. „Die eigentlich­e Ursache von Gewalt an Frauen liegt in dem Machtgefäl­le der Geschlecht­er“, sagt Forscherin Błuś. Doch es gibt Ansätze, wie Betroffene Hilfe suchen können:

Da gibt es zum Beispiel die 18jährige Schülerin Krystyna Paszko aus Warschau. Sie richtete einen Fake-Onlineshop für Kosmetikar­tikel ein. Wer auf der Internetsi­te „Rumianki i bratki – Kamille und Stiefmütte­rchen“im Chat um Beratung für eine Hautcreme bittet, der landet bei einer Psychologi­n oder Juristin, die danach fragt, wie lang die „Hautproble­me“schon bestehen. Gibt die Frau eine Bestellung mit einer Adresse auf, ist das das Zeichen für einen Hilferuf.

Inspiriert wurde Paszko von Initiative­n aus Frankreich, Belgien und Spanien. Dort wurde in Apotheken ein Meldesyste­m eingericht­et. Wenden sich Betroffene mit dem Codewort „Maske 19“an das Apothekenp­ersonal, wird die Polizei alarmiert. Auch nach der Krise soll dieses Meldesyste­m bleiben.

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