Befund und Zahlen
Warum Kränkungen und Rache, aber auch Nachahmungseffekte bei schrecklichen Beziehungstaten eine große Rolle spielen.
Psychiater Reinhard Haller über Rollenverhalten und Motive. Und eine Statistik.
HELMUT SCHLIESSELBERGER
Gerichtspsychiater Reinhard Haller zu Frauenmorden, die Österreich in den letzten Tagen erschütterten.
SN: Nach Berichten über Suizide gibt es oft Nachahmungseffekte. Gibt es diese offenbar auch nach Beziehungstaten?
Reinhard Haller: Wenn es zu großen Gewalttätigkeiten kommt, ist die Gefahr des Nachahmens gegeben. Das war auch mein Gedanke bei diesem neuerlichen Vorfall in Salzburg: Wenn man von Femiziden hört, können Personen, die in einer ähnlichen Situation sind – wenn bestimmte Faktoren dazukommen – auch zu dem Modell greifen.
SN: Sind die Medien und die Öffentlichkeit in der Pflicht?
Der „Bierwirt“hat geradezu einen negativen medialen Promistatus erlangt.
Ich bin der Letzte, der den Medien die Schuld zuweisen will. Die Öffentlichkeit hat ein gewisses Verlangen nach Aufklärung, dem die Medien nachkommen müssen. Wichtig ist aber eine möglichst sachliche Darstellung und dass man Hilfsmöglichkeiten anführt. Die müssen sich nicht nur an die Frauen richten, sondern auch an die Männer. Männerberatungsmöglichkeiten sind hier ganz wichtig.
SN: In Ihren letzten Büchern geht es um „Die Macht der Kränkung “und um „Rache“. Kulminiert nicht beides in solchen Frauenmorden?
Rache resultiert immer aus Kränkung. Kränkung ist immer ein Zwischenglied zwischen Hass, Eifersucht und der eigentlichen Rache. In Österreich haben wir im Prinzip wenige Morde, weil es bei uns wenig Bandenkriminalität, keine Clans und Drogenkartelle gibt, auf deren Kosten in anderen Ländern 90 Prozent
der Tötungen gehen. Aber 70 Prozent sind Beziehungsdelikte in den eigenen vier Wänden, da sind Frauen viel öfter Opfer als etwa bei organisierter Kriminalität.
SN: Warum neigen Männer so viel mehr zu Gewalt?
Dass die Männer die Aggressiveren sind, die mit Kränkungen weniger umgehen können und zu kurzfristigeren radikalen Lösungen streben, ist eine Tatsache. Männer sprechen viel weniger über Angst vor Liebesverlust oder Rachefantasien als Frauen. Frauen gehen eher zum Psychotherapeuten. Männer, die hart und cool sein müssen, können oft nicht einmal gegenüber dem besten Freund zugeben, wie verletzt sie sich fühlen. Wenn man diese Dinge nicht anspricht, wuchern sie heran zu derart grausigen Fantasien, die auch in die Tat umgesetzt werden.
SN: Wie bringt man Gekränkte dazu, Hilfe anzunehmen?
Zunächst glaube ich, dass es wichtig ist, für Kränkung sensibler zu werden. Es müsste mit einem anderen Männerbild zusammenhängen, dass man als Mann auch zeigen darf, im Gefühlsbereich seine Empfindlichkeiten zu haben. Wichtig ist auch, dass man in der aktuellen Diskussion nicht nur den berechtigten Wunsch nach Verbesserung der Schutzeinrichtungen für Opfer, sondern auch die Täterseite viel mehr anspricht.
SN: Braucht man die geforderten Tausenden zusätzlichen Stellen bei Frauenschutzorganisationen oder Tausende Psychiater für Männer? Oder beides?
Es müsste selbstverständlich sein, dass Frauenschutzorganisationen gut ausgestattet sind und nicht erst tragische Anlässe hernehmen müssen, um mehr Stellen zu fordern. Bei den Tätern gibt drei Punkte: 1. Männer dürfen es nicht als Niederlage empfinden, Beratung in Anspruch zu nehmen. 2. Frauen scheuen sich,
Anzeige zu erstatten bzw. nehmen Anzeigen rasch zurück. Im Volk hat sich die berechtigte Meinung etabliert, wenn ich bei der Polizei anrufe, heißt es: „Wir können erst etwas tun, wenn etwas geschehen ist.“Man müsste also eine Möglichkeit schaffen, Ankündigung von Gewalt niederschwelliger zu melden, ohne dass gleich der ganze Polizei- und Justizapparat in Bewegung kommt – etwa so wie bei der Telefonseelsorge oder Jugendfürsorge. 3. Langfristig müssen wir am Männerbild arbeiten und lernen, Kränkungen und Liebesentzug anzusprechen.
SN: Welche Maßnahmen sind da notwendig?
Wenn man vermittelt bekommt, dass andere Menschen, das auch mitgemacht haben, dann ist alles viel weniger brisant. Und jenen, die wirklich Störungen haben, müsste man Therapiemöglichkeiten eröffnen: Empathie-, Antiaggressions-, Partnerschafts- und Kränkungstraining.
SN: Steht in Österreich ein falsches Männer-/Frauenbild im Hintergrund – anders als in fortschrittlicheren Ländern, wo man beim Gleichberechtigungsthema weiter ist?
Die skandinavischen Länder sind unbestreitbar weiter. Es lässt sich aber auch nicht bestreiten, dass bei Frauentötungsdelikten der Anteil von Menschen, die in einer anderen Kultur aufgewachsen sind, mit anderen Ehrbegriffen und anderem Frauenbild mit 40 Prozent relativ hoch ist. Bei Integrationsmaßnahmen müsste man Schwerpunkte darauf legen, zu vermitteln, dass bei uns Frauen gleichberechtigt sind.
SN: Am Wertebild der eingesessenen Bevölkerung müsste man nicht auch arbeiten? Natürlich, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. 60 Prozent der Täter sind immerhin Einheimische. Aber das wird halt nicht ganz kurzfristig greifen. Das wird nur mittelfristig Erfolg haben.