Die EU soll ein Stückchen mehr zur Sozialunion werden
Die Krise ist auch eine der Sozialsysteme. Aber genau da wollen sich viele EU-Staaten nicht dreinreden lassen.
Das hat es lang nicht mehr gegeben: einen EU-Gipfel, zu dem die Staats- und Regierungschefs persönlich anreisen. In Porto wollen sie am Freitag über Sozialpolitik reden, am Samstag dann auf einem Indien-Gipfel über die Beziehungen zum Subkontinent.
Fast könnte man meinen, Europa kehre zurück zur Normalität. Aber eben nur fast. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der niederländische Premier Mark Rutte bleiben unter Verweis auf die Coronalage im eigenen Land zu Hause. Der maltesische Regierungschef Robert Abela ist in Quarantäne. Und Indiens Regierungschef Narendra Modi hat bereits vor zwei Wochen abgesagt, als die Infektionszahlen in Indien explodierten.
Die sozialistisch geführte portugiesische Regierung hat die EU-Sozialpolitik
ins Zentrum ihrer noch bis Ende Juni laufenden Ratspräsidentschaft gestellt. Wann, wenn nicht in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, sollte über Arbeitslosigkeit, gerechte Löhne und Fortbildung geredet werden?
Spanien verzeichnete im März eine Arbeitslosenquote von 15,3 Prozent, Griechenland von 15,8 und Italien von 10,1 Prozent. Vor allem die Lage der Jugend ist mancherorts verzweifelt. Gastgeber Portugal steht mit einer Arbeitslosenquote von 6,5 Prozent noch vergleichsweise gut da – und besser als der EU-Schnitt (7,3 Prozent).
„Die soziale Dimension der EU ist absolut entscheidend“, sagt Portugals Premier António Costa. Geht es nach ihm, sollen die EU-Staaten in Porto feierlich erklären, dass Europa „ein Kontinent sozialen Zusammenhalts und des Wohlstands“sei und der Aufbau nach der Pandemie auch über sozialpolitische führen müsse.
Europa nicht primär als Wirtschafts-, sondern auch als Sozialunion zu verstehen und den Worten konkrete Taten folgen lassen – das wollen Sozialdemokraten und linke
Maßnahmen
Parteien, Gewerkschaften und die EU-Kommission. Die meisten Mitgliedsstaaten stehen auf der Bremse – und haben die EU-Verträge auf ihrer Seite. Sie sehen für Brüssel kaum soziale Kompetenzen vor.
Dennoch hat Ursula von der Leyen eine Reihe sozialpolitischer Versprechen gemacht. Dazu gehören vor allem „faire Mindestlöhne“. Ihre Ansage, „es ist Zeit, dass Arbeit sich lohnt“, wurde in vielen Hauptstädten, auch in Wien, nicht gerade begeistert aufgenommen.
Gehaltspolitik ist in den EU-Staaten Sache der Regierungen oder – wie in Österreich – der Sozialpartner. Da will man sich von Brüssel nicht dreinreden lassen. Der Richtlinienentwurf, den Sozialkommissar Nicolas Schmit im Herbst machte, legte denn auch keine konkreten Lohnuntergrenzen fest, sondern gibt einen Handlungsrahmen.
Dennoch sind einige Staaten alarmiert. Gleichsam vorbeugend haben Österreich und acht weitere Länder am Donnerstag deponiert, dass Sozialpolitik nationale Angelegenheit bleiben müsse. Für Österreich unterschrieb Arbeitsminister Martin Kocher, der Kanzler Sebastian Kurz nach Porto begleitet.
Andere wiederum hoffen darauf, dass der Gipfel konkrete Ergebnisse bringt. Dazu zählt der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: Wenn Portugals Regierungschef Costa das nicht schaffe, „dann keiner“, sagte er.
Es wird nicht einfach sein. Juncker hatte 1997 den ersten Sozialgipfel nach Luxemburg einberufen. Der vorläufig letzte fand 2017 in Göteborg statt. Dort hatten sich die Staats- und Regierungschefs auf eine „europäische Säule sozialer Rechte“verständigt. Sie besteht aus 20 Grundsätzen eher allgemeiner Natur, die jeder unterschreiben kann.
In Porto sollen sich die „Chefs“nun wenigstens auf Ziele bis zum Jahr 2030 festlegen: eine EU-weite Beschäftigungsrate von mindestens 78 Prozent, Fortbildung für 60 Prozent der Erwachsenen, 15 Millionen weniger Armutsgefährdete in der Union.