Warum wir die Krise besser bewältigen, als wir glauben
Die Thesen zu Corona von Zukunftsforscher Matthias Horx vor einem Jahr bewegten viele. Was daraus geworden ist.
SABRINA GLAS
Trendforscher Matthias Horx wagte vor zwölf Monaten eine CoronaRückwärts-Prognose (Re-Gnose). Im Interview spricht er über seine Thesen von damals und darüber, warum wir bei Fehlern in der Krise oft zu hart mit uns ins Gericht gehen. Seine Thesen begleiten das Interview.
März 2020: Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September 2020. Wir sitzen in einem Straßencafé in einer Großstadt. Es ist warm und auf der Straße bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher?
SN: Vor einem Jahr versuchten Sie, von der Zukunft zurück in die Gegenwart zu blicken.
Mit einigen Thesen hatten
Sie sich stark verschätzt.
Matthias Horx: Ich habe damals bewusst hervorgehoben, dass die Thesen keine Prognosen sind, dafür wussten wir zu dem Zeitpunkt zu wenig über Corona. In der Tat habe ich mich geirrt, was die Dauer der Krise betraf. Aber meine Intention im März 2020 war es, eine andere mentale Vorstellung des Phänomens „Corona“zu versuchen. Wir standen damals kurz vor einer kollektiven Panik, einer Angst-Übersteuerung. Dieser Situation wollte ich ein Gefühl von Hoffnung und Zuversicht entgegensetzen. Es ging darum, wie wir uns in Krisen selbst verändern können. Es ging um Selbstveränderung im Sinne einer anderen Zukunft.
Wir werden uns wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die Überlebensrate erhöhten. Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag.
SN: Nach Ansicht der Forschung sind Impfstoffe und weniger das soziale Verhalten für die Bekämpfung einer Pandemie entscheidend. Wie sehen Sie
Ihre These heute?
Ohne kollektive Verhaltens- und Bewusstseinsänderungen wären die Opferzahlen ja viel höher gewesen. Indien zeigt wieder, wie wichtig das ist. Und Impfen nützt eben auch nur dann, wenn die Gesellschaft kooperiert. Natürlich gibt es immer Menschen, die eine destruktive oder verweigernde Haltung haben. Ich würde aber doch behaupten, dass die Gesellschaft in der Krise auch eine Solidaritätserfahrung gemacht hat und die Krise eigentlich ganz gut bewältigt hat. Obwohl wir uns in den vergangenen zwei Monaten in einer hässlichen Streitphase befanden, befürworten in Österreich und Deutschland noch immer rund zwei Drittel der Bevölkerung auch harte Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Das ist schon erstaunlich.
SN: Was verleitet Sie zu der Annahme, wir hätten die Krise schon bewältigt?
Bewältigt haben wir sie noch nicht. Aber es lässt sich absehen, dass Corona bald in den Zustand eines „pandemischen Equilibriums“übergeht. Dann lernen wir, damit zu leben, wie wir ja auch mit anderen tödlichen Krankheiten leben. Trotzdem fällt es uns schwer, das als Erfolg zu sehen. Das liegt daran, dass wir uns immer an der perfekten Lösung orientieren und dann alles nur noch negativ erscheint.
SN: Österreich verzeichnet bislang mehr als 10.000 Todesopfer. Kritiker würden nun einwerfen, das hätten durchaus weniger sein können.
Das ist richtig, aber immer auch wohlfeil. Jede Maßnahme, die man trifft, ist falsch. Alles zuzusperren ist genauso falsch wie alles zu öffnen – beides fordert Opfer. Kompromisse sind aber auch falsch. Wenn man sich dieses Dilemma nicht eingesteht, kommt man in eine anmaßende Situation. Wir hätten natürlich auch wie etwa Neuseeland eine Null-Covid-Strategie verfolgen können. Aber Österreich ist eben nicht Neuseeland. Wir können die Dinge immer nur auf der Ebene lösen, zu der wir fähig sind. Vielleicht brauchen wir so etwas wie eine Selbstamnestie gegenüber den Fehlern, die wir in Krisen unweigerlich machen.
SN: Sie sagen, Corona habe uns aus einer Wohlstandskrise geholt. Ist das nicht taktlos?
Wir haben vor der Krise in der Erwartung gelebt, dass alles immer so weitergeht wie bisher: immer schneller, immer billiger, immer mehr. Und dass „so etwas“nicht mehr passieren kann. Wir dachten, alles mit Technik beherrschen zu können. Wir wurden also mit einer inneren Illusion konfrontiert, was viele Menschen auch wütend und zornig gemacht hat. Diese Nicht-Akzeptanz drückt sich auch in den Verschwörungstheorien aus. Diese Theorien sind der Versuch des Einzelnen, seine Kontrollillusion zu stabilisieren.
Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien
wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden.
SN: Warum, glauben Sie, halten sich einige Verschwörungstheorien doch noch immer?
Etwa werden die Anhänger der QAnon-Bewegung mehr. Werden sie wirklich mehr? Ist es nicht eher so, dass sich immer alle Kameras auf diejenigen richten, die die wirrsten Theorien vertreten? Wir leben in einer Aufmerksamkeitsökonomie,
und die verstärkt marginale Phänomene ins Unendliche, sie züchtet regelrecht das Schrille, Extreme. Ich glaube, die Verschwörungstheorien haben sich nicht wirklich ausgebreitet. Es gab eher einen Gegeneffekt: Durch das Sichtbarwerden dieser Verwirrungen haben wir das Rationale, Vernünftige wieder schätzen gelernt. Eine Art Selbststabilisierung durch Fremdschämen. Es gibt auch einige Anzeichen, dass sich die Gesellschaft bewusst gegen den Populismus entscheidet.
Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. [...] Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das im Populismus wohnt.
SN: In der Krisenpsychologie spricht man von vier Phasen:
Auf die Anfangseuphorie und die Gewöhnungsphase folgt die Erschöpfung, bevor die Heimkehr einsetzt. Wir befinden uns wohl in der dritten Phase. Wie machen wir uns?
Polarforscher oder Astronauten haben in der Tat die Erfahrung gemacht, dass bei einer langen Expedition, die über ein Jahr und mehr geht, diese vier von Ihnen genannten Phasen entstehen. Am Anfang von Corona hatten wir ja eine große Geschlossenheit. Dann kam im letzten Sommer die Erschlaffung. Wir sind jetzt gerade im Übergang von der dritten in die vierte Phase. Die verflixte dritte Phase ist jener Abschnitt, in der man in die emotionale Verwirrung fällt, sich gegenseitig bezichtigt, alles nur noch katastrophisch empfindet. Das Paradoxe ist, dass in dieser Phase die Lösungen eigentlich bereits vorhanden sind. Die Expedition hat eine Menge durch Irrtümer gelernt, jetzt fügt sich alles zusammen. Das Einlaufen in den Hafen oder die Landung auf der Erde zeichnet sich bereits ab, nur sind unsere Seelen irgendwie im Orbit oder auf weiter See verloren gegangen. Das Paranoische verblasst langsam. Der erhitzte kollektive Geist wird wieder kippen.
SN: Wie schaffen wir es, diese Grenze zu überschreiten, also dass der kollektive Geist kippt? Unser Verhältnis zur Krise ändert sich, wenn wir den unvermeidlichen Wandel, der durch sie erzeugt wurde, anerkennen. Die Fragen, die wir sonst an den Rand drängten, werden übermächtig. Wie wollen wir in Zukunft leben? Wie können wir uns wandeln? Ein erstaunliches Ergebnis der Coronakrise betrifft zum Beispiel unser verändertes Verhältnis zu Umweltfragen. Durch Corona ist uns die Klimakrise plötzlich viel näher gekommen. Wir erleben plötzlich einen Durchbruch im Umweltbewusstsein. Es gab noch nie so viel Entschlossenheit, die Klimakrise zu lösen, wie genau jetzt.
Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch?
Vielleicht war das Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.
SN: Welche positiven Lehren hat man aus vergangenen
Krisen gezogen?
Besonders Pandemien führen häufig zu einem Zeitenwechsel, einem Epochenbruch. Sie verändern die Gesellschaftsstruktur, die kulturellen Muster, führen zu neuen Narrativen. Die Choleraepidemien im 19. Jahrhundert haben die Städte massiv verändert. Nach der Pestzeit im 14. Jahrhundert begann die Renaissance.
„Durch Fremdschämen stabilisieren wir uns selbst.“
SN: Aber diese Veränderungen traten immer erst nach ein paar Jahren ein. Die Renaissance stellte sich erst Jahre später ein, zuvor waren Hexenverfolgungen an der Tagesordnung. Jede tiefe Krise ist natürlich erst einmal mit einer Turbulenz verbunden, mit Hilflosigkeit und Angst. Aber gerade dadurch entstehen neue Weltbezüge und Denkweisen. Wir können sozusagen nicht mehr im Alten weiterdenken, wir sind gezwungen, die Welt neu zu erfinden. Im Grunde gibt es nur eine Antwort auf globale Krisen: mehr Zusammenarbeit, höhere Integration. Die Coronakrise ist eine Vorübung für das, was jetzt klar und deutlich auf der Tagesordnung steht: die postfossile Transformation, das große Projekt des 21. Jahrhunderts.
Matthias Horx