Die Mächtigen suchen den Rat der Bürger
Am Sonntag startet ein Versuch: Eine Megakonferenz soll binnen eines Jahres Reformideen für die Zukunft der EU entwickeln.
Am Sonntag ist Europatag. Er wird zwar am Großteil der EUBürger spurlos vorübergehen; wenn schon gefeiert wird, dann eher der Muttertag. Dennoch ist es möglich, dass dieser 9. Mai für die EU-Politik größere Folgen haben wird. In Straßburg wird die Konferenz zur Zukunft Europas eröffnet. Sie ist auf ein Jahr angelegt. Alle Menschen in der Union, die wollen, sollen mitreden.
„Hören, wovon die Bürger träumen“, das hat Kommissionschefin Ursula von der Leyen versprochen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dessen Reformideen am weitesten reichen, wird die Eröffnungsrede halten. Auf einer Onlineplattform können die Bürger bereits jetzt ihre Ideen für ein besseres
Europa schreiben – in allen EUSprachen. Algorithmen sorgen dafür, dass die Beiträge thematisch geordnet werden und letztlich in Reformvorschlägen münden. Sobald die Pandemie es wieder zulässt, soll es auch große Bürgerforen geben.
Und dann? Dann soll sich etwas ändern in der EU. Die Frage ist nur, was und wie sehr? „Es gibt keine Denkverbote“, sagt ein Diplomat. „Nur der Himmel setzt Grenzen“, meint der belgische EU-Mandatar Guy Verhofstadt von den Liberalen.
Faktisch setzen die EU-Verträge die Grenzen. Anders als der Verfassungskonvent Anfang der 2000erJahre, zielt die Reformkonferenz nicht auf eine Vertragsänderung ab.
Baustellen gibt es genügend im Institutionengefüge der EU. Das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik verhindert, dass Europa mit einer Stimme spricht, und macht die EU eher zum Zuschauer denn zum Akteur auf der Weltbühne. Von der Leyen, und nicht nur sie, fordert offen ein Abgehen von der Einstimmigkeit.
Die Pandemie hat gezeigt, dass es mitunter nicht weit her ist mit der europäischen Solidarität. Auch die zu Beginn schleppende Impfstoffversorgung löste Debatten und Unzufriedenheit aus. Für die Kommissionschefin liegt „klar auf der Hand: Wir müssen eine stärkere Europäische Gesundheitsunion schaffen“. Das sagte sie im vergangenen September. Auf dem Gipfel in Porto forderte sie am Freitag „ein starkes soziales Europa“. Für beides fehlen Brüssel jedoch die Kompetenzen.
Auslöser für die Zukunftskonferenz war die EU-Wahl im Mai vor zwei Jahren. Die europäischen Parteien hatten Spitzenkandidaten ins Rennen geschickt. Der Sieger oder die Siegerin sollte die Kommission führen. Kommissionspräsidentin wurde dann auf Beschluss der EUStaatsund Regierungschefs die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die nie zur Wahl gestanden war. Das Parlament hat die Missachtung nicht verwunden. Es ruft nach einer Direktwahl für den Spitzenjob. Auch das dürfte Thema werden beim Nachdenken über die EU.
Um die größten Baustellen zu schließen, sind Vertragsänderungen nötig. Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und Emmanuel Macron haben das nicht ausgeschlossen. Kanzler Sebastian Kurz hat vor zwei Jahren sogar explizit einen neuen Vertrag gefordert, ohne konkret zu werden. Doch Änderungen am Vertrag verlangen die Zustimmung aller 27 Staaten. Die war bisher in weiter Ferne. Aber vielleicht erzeugen ja Debatten mit den Bürgern die nötige Dynamik.
„Wir wollen hören, wovon die Bürger träumen.“Ursula von der Leyen, Kommissionspräsidentin