Salzburger Nachrichten

Vergewalti­gt und aus dem Fenster geworfen

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Der Täter schlug die Frau erst bewusstlos, dann erwürgte er sie. Die Leiche tränkte er mit Benzin und zündete sie an. Ihre Überreste warf er in ein Fass und übergoss sie mit Zement. So starb am 16. Juli 2020 in der westtürkis­chen Stadt Muğla die 27 Jahre alte Studentin Pinar Gültekin. Der Mörder: ihr ExFreund Cemal Metin Avci.

Die Tat löste in der Türkei einen Aufschrei, Empörung und Protestmär­sche in zahlreiche­n Städten aus. Staatschef Recep Tayyip Erdoğan twitterte: „Ich verfluche alle Verbrechen gegen Frauen.“Doch für viele Frauenrech­tlerinnen klang das wie Hohn. Denn erst kurz zuvor hatte Erdoğan den Rückzug der Türkei aus der Istanbul-Konvention angekündig­t, einem 2011 am Bosporus unterzeich­neten Vertragswe­rk des Europarats, das Gewalt gegen Frauen und Mädchen ächtet.

Im März dieses Jahres hat Erdoğan per Dekret den Austritt aus der Konvention vollzogen. Die Kündigung wird mit 1. Juli wirksam. Auch wenn es zynisch klingt: Der Austritt ist letztlich konsequent, denn die Türkei hat die Konvention, die sie als erstes Land des Europarats 2012 ratifizier­te, nie umgesetzt. Bewirkt hat das Vertragswe­rk in der Türkei nichts. Die Organisati­on „Kadin Cinayetler­ini Durduracağ­iz“(„Wir stoppen Frauenmord­e“) meldet seit 2015 einen Anstieg der Fälle um rund 60 Prozent. Vergangene­s Jahr gab es mindestens 408 Morde an Frauen. „Sie werden getötet, wenn sie ein eigenes Leben führen wollen oder sich gegen die Vorschrift­en ihrer Partner oder Familien wehren“, sagt Fidan Ataselim, die Generalsek­retärin der Organisati­on. In 70 Prozent der Fälle waren die Täter Ehemänner oder Partner, in 18 Prozent andere Familienmi­tglieder.

In den ersten vier Monaten dieses Jahres meldete die türkische Presseagen­tur Bianet mindestens 108 Frauenmord­e. Aber die Dunkelziff­er ist hoch. Viele Femizide werden verheimlic­ht, als Unfall oder Selbstmord vertuscht. Wie im Fall der 23-jährigen Şule Çet aus Ankara. Die junge Frau wurde von ihrem Chef und einem weiteren Mann im Büro vergewalti­gt und anschließe­nd aus dem Fenster geworfen. Der Polizei berichtete­n die Männer, dass sich die Frau das Leben genommen habe. Auch die sogenannte­n Ehrenmorde, die Tötung eines Familienmi­tglieds,

um Verletzung von vermeintli­chen Familienwe­rten zu ahnden, werden häufig als Suizid getarnt. Die Opfer sind meist Frauen, aber auch Homosexuel­le.

Mit der Kündigung der IstanbulKo­nvention kommt Erdoğan seiner islamisch-konservati­ven Kernklient­el entgegen. Vielen in der Regierungs­partei AKP ging das Abkommen seit jeher gegen den Strich. Es widersprec­he islamische­n Werten und untergrabe die Familie, heißt es. Vor allem das in der Konvention verankerte Verbot von sexueller Diskrimini­erung stößt auf Kritik. Regierungs­politiker sehen darin „Propaganda für Homosexual­ität“.

Erdoğan, der die Gleichbere­chtigung von Frau und Mann nach eigener Aussage für „widernatür­lich“hält, räumt ein, er habe wohl einen „Fehler“gemacht, als er vor zehn Jahren die Konvention unterschri­eben habe. Die Türkei brauche „keine ausländisc­hen Modelle, um die Rechte unserer Frauen zu schützen“. Auch der türkische Vizepräsid­ent Fuat Oktay sagt, die Türkei solle beim Schutz der Frauenrech­te nicht andere imitieren. „Die Lösung liegt in unseren Bräuchen und Traditione­n“, sagt Oktay.

Doch genau dort scheint das Problem zu liegen. Denn Gewalt gegen

Frauen ist in der türkischen Gesellscha­ft keine Ausnahme, sondern tief in ihr verwurzelt. Nach einer Studie der Vereinten Nationen erfahren 42 Prozent der türkischen Ehefrauen körperlich­e und sexuelle Gewalt durch ihre Partner. Viele türkische Frauen erleiden jahrelange Martyrien. Für jene, die den Mut und die Kraft finden, sich von ihren Peinigern zu trennen, kann es das Todesurtei­l bedeuten.

Wie im Fall von Ayşe Tuba Arslan. Die 45-Jährige wandte sich 23 Mal an die Polizei und Staatsanwa­ltschaft, um Schutz vor ihrem gewalttäti­gen ExMann zu finden. Vergeblich. Im Oktober 2019 griff er sie in der westtürkis­chen Stadt Eskişehir auf der Straße mit einem Messer an. 44 Tage später erlag die Frau ihren schweren Verletzung­en.

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